Falk Schacht: „Deutschrap ist so divers wie nie zuvor“

Radio sowie die Genres HipHop und Rap auf der anderen Seite pflegen in Deutschland ein eher distanziertes Verhältnis. So spiegelt sich etwa das Verhältnis erfolgreicher Rap-Hits aus den Top 100- und Streaming-Bestenlisten kaum adäquat auf den Musikplänen deutscher Hörfunksender wider. Zwar öffnen sich die Playlisten zahlreicher Programme vermehrt für HipHop-Songs, diese haben musikalisch und textlich allerdings oft nur noch entfernt mit dem Genre gemein, sind als „Rap-Light“ oder – um es deutlicher einzuordnen – eher als Deutsch-Pop einzustufen. Nennenswerte Rap-Anteile im Radio sind in hoher Zahl am ehesten bei Jugendsendern in urbanen Räumen wie Berlin oder Bremen hörbar. Immerhin ist die Anzahl engagiert gemachter HipHop/Rap-Specialshows am Abend zuletzt weiter gewachsen. Offenbar auch ein Reflex auf gestiegene Nachfrage der Hörer.

HipHop-Symposium an der Popakademie Mannheim 2018 mit Jan Delay, Samy Deluxe, Falk Schacht, Torch)
HipHop-Symposium an der Popakademie Mannheim 2018 mit Jan Delay, Samy Deluxe, Falk Schacht, Torch)

Diese Zurückhaltung – vor allem gegenüber hartem Deutsch- und Gangstarap – hat Gründe. So signalisieren Sender-interne Hörerbefragungen klare Aussagen: einer hohen Zustimmung im spitzen Segment eines jungen, urbanen, (über lange Zeit) überwiegend männlichen Milieus, steht die deutliche (bis krasse) Ablehnung in sehr weiten Teilen der übrigen Hörerschaft gegenüber. 

Weiter erweist sich die Kurzlebigkeit vieler Rap-Erfolgshits aus den Musikbestenlisten als wenig geeignet für das Radio. Ein guter Teil der Songs erreicht mit Unterstützung von Social Media-Plattformen wie TikTok und massiver Streaming-Power über Nacht regelmäßige Bestplatzierungen, fällt kurz darauf aber wieder rasch zurück in die Tiefen der Vergessenheit. Dies als Folge eines fundamental veränderten Geschäftsmodells – da bereits schon nach sehr kurzer Zeit weitere Werke der Musiker zur Folgeveröffentlichung anstehen. Eine Spirale, die in dieser Form schwer mit dem auf Nachhaltigkeit und hohem Wiedererkennungswert ausgelegten Konzept der meisten Hörfunkprogramme in Einklang zu bringen ist. 

Ein weiteres Ausschlusskriterium ist die inhaltliche Sendefähigkeit der Texte zahlreicher Titel, die bei den Programmmachern regelmäßige „Daumen-nach-unten“-Reaktionen auslösen. Verbalinjurien, Gewalt- und Drogenverherrlichung oder Songs mit frauenfeindlichen Texten werden durch die Musikredaktionen bereits im Vorfeld aussortiert. Aber auch vermeintlich sende-fähige Stücke finden den Weg auf die Playlisten oft nur nach intern sehr kontroversen Diskussionen.    

Schade eigentlich, dass eine intensivere Auseinandersetzung der Radiomacher mit der HipHop- und Rapkultur insgesamt vielfach nur oberflächlich ausfällt. Angesichts der weiter gewachsenen Wucht und Bedeutung der HipHop-Bewegung besteht hier offensichtlicher Nachholbedarf.

Falk Schacht kennt als Topexperte die Gründe für den Erfolg deutscher und internationaler Rapmusik. Seit 25 Jahren beobachtet der Journalist und Berater die Szene mit Fokus auf die urbanen Jugendkulturen.

Falk Schacht (Bild: ©Sandra Müller)
Falk Schacht (Bild: ©Sandra Müller)

“RTL News“, die “Heute Nachrichten“, die “Aktuelle Stunde“ im WDR, Vox, ZDF, Glamour, Zeit, Spiegel, Hannoversche Allgemeine Zeitung oder (im Hörfunk) der Deutschlandfunk, WDR Cosmo, YouFM, MDR Sputnik, FM4, FluxFM, 1Live sowie Agenturen wie Jung von Matt, OMRockstars und andere nutzen seine Expertise, wenn ein Kommentar oder die Einschätzung eines HipHop-Insiders gebraucht werden.

Schacht ist dabei auf nahezu allen journalistischen Feldern präsent. Er schreibt Kolumnen und Artikel, macht Interviews vor und hinter der Kamera für seine eigenen Formate wie „Frag Falk“, wo er Fragen von HipHop-Fans und prominenten Gästen wie Hubertus Heil, Sasha oder Jan Delay zur HipHop-Kultur beantwortet. 

Im Hörfunk moderiert Falk Schacht seit rund drei Jahren die „NJOY Soundfiles HipHop“ mit DJ Mad und seit vier Jahren produziert er für BR PULS den „Schacht & Wasabi Deutschrap-Podcast“. 

 

„Deutschrap und die HipHop-Kultur sind der dominante kulturelle Treiber der Entwicklungen im Pop Sektor“

 


Im Gespräch mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich spricht der leidenschaftliche „Audio Mensch“ Falk Schacht über Hintergründe und die vielen bemerkenswerten Facetten rund um die aktuelle HipHop-Szene. Aufgrund der sehr komplexen Materie veröffentlichen wir das Interview in zwei Teilen.

RADIOSZENE: Herr Schacht, anlässlich unserer jährlichen Umfrage stellte PULS-Musikchef Christoph Lindemann fest, dass „HipHop und Deutschrap innerhalb der jungen Zielgruppen nicht mehr so dominant seien“. Eine These, die sich nur auf das Radio bezieht oder auch verallgemeinert werden kann?

Falk Schacht designed by Hennecki
Falk Schacht designed by Hennecki

Falk Schacht: Die Frage an dieser Stelle ist doch, was bedeuten heute Deutschrap und HipHop? Denn Deutschrap ist so divers wie nie zuvor, es gibt so ziemlich jede Deutschrap-Spielart, die man sich vorstellen kann. Und auch diejenigen Spielarten, die man sich nicht vorstellt, gibt es auch noch! Trap Metal, Chanson Trap – das gibt es alles – wenn auch nicht immer auf Deutsch.

Es werden so viele Gesangsacts unter Vertrag genommen wie nie zuvor, die auf Trap- Beats singen. Deutschrap und die HipHop-Kultur sind der dominante kulturelle Treiber der Entwicklungen im Pop Sektor. Apache 207 ist Deutschrap und HipHop – auch wenn viele ihn nicht so lesen mögen.

RADIOSZENE: Die Umstellung der “Offiziellen deutschen Charts“ stützt nach jüngsten Beobachtungen ein wenig auch die These von Christoph Lindenmann. Gar so viele Stücke aus dem Segment tauchen in der Tat nicht mehr auf den vorderen Rängen auf. Auch verschwinden viele Deutschrap-Hits bereits nach kurzer Zeit wieder in der Vergessenheit. War das Genre in den Charts zuvor „überhitzt“ dargestellt? Oder, wie manche vermuten, auch Folge „kreativer“ Einflussnahme?

Falk Schacht: Dass die Erhebung der Charts in den letzten Jahren schwieriger geworden ist, steht ja außer Frage. Meines Erachtens ist es wichtig zu verstehen, dass das Nutzungsverhalten von 20-Jährigen heute völlig anders ist, als es noch vor 20 Jahren oder sogar vor 10 Jahren war. Die „Generation Streaming“ konsumiert Musik so schnell wie keine Generation vor ihr. Sodass der Fomo-Effekt („Fear Of Missing Out“) seine maximale Kraft entfaltet aufgrund der Usability von Streaming. Das führt zu einem extrem starken konsum-kulturellen Wandel bei den U30-Jährigen. Und HipHop ist eine Kultur, die immer am Puls der Zeit agiert und weiß wie man das aktuelle Momentum maximal nutzt.

Darüber hinaus ist die Betrachtung von Deutschrap als reine Musik, die einfach nur einen Hit liefern soll, wesentlich zu kurz gegriffen. Deutschrap muss man als einen einzelnen Teil der HipHop-Kultur betrachten, die massiven Einfluss über die Pop-Kultur auf den Lifestyle der „Generation Streaming“ nimmt – und andersherum. Das Leben der U30-Jährigen findet in der HipHop-Kultur seine Spiegelung. Es handelt sich dabei um eine Welt mit eigenen Codes und Bedingungen. Sprache, Malerei, Tanz, Fashion, Konsum und so weiter.

Dabei darf man nicht vergessen, dass bereits Ende der 90er-Jahre eine massive HipHop- Generation in Deutschland aktiv war. Die Zahlen von Festivals wie dem “Splash“ und den “HipHop-Open“ explodierten um die 00er-Jahre herum und waren sofort im fünfstelligen Bereich. Und viele Chart-Platzierungen in der Pre-MP3-Ära waren an der Tagesordnung, gefolgt von der “Generation Aggro Berlin“ ab 2004. Diese Generationen sind heute zwischen 30 und 45 Jahren alt und sehen sich selbst auch noch als Teil der HipHop- Gemeinschaft. Es ist also eine breite Schicht der Gesellschaft U40 an der HipHop-Kultur interessiert und das ist so viel mehr als ein Hit-Song von Rapper*innen.

 

„Es findet gerade eine ‚HipHopisierung‘ der Gesellschaft statt“

 

RADIOSZENE: Die Musikszene wird seit Jahren mit einer sehr hohen Zahl an Deutschrap-Veröffentlichungen und immer neuen Künstlern geflutet. Ausdruck einer gestiegenen Nachfrage oder einfach nur die branchenüblichen Mechanismen der Musikindustrie, einen Erfolgstrend auch hier mit Überangeboten so intensiv melken, bis er in sich zusammenbricht?

Falk Schacht: Natürlich wirken die internen Mechanismen der Major-Musikindustrie auch heute wie sie immer wirkten. Aber Deutschrap und die HipHop Kultur sind nicht explodiert, weil die Musikindustrie das gerne wollte. Und auch wenn es Vorwürfe von Klickbetrug gibt was die Charts betrifft, so würde die Frage bleiben, warum es ausschließlich von Rapper*innen genutzt werden sollte – und alle anderen Musikgenres einfach nur zuschauen würden? Payola-Skandale gibt es seit den 1940er-Jahren und sind keine HipHop-exklusive Erfindung.

Hinzu kommt: diverse Rapper*innen spielten vor Corona bereits ausverkaufte Stadion-Touren. Sowohl Deutschrap-Acts aus den 90er-Jahren wie auch die ganz aktuellen Künstler. Volle Arenen mit 15.000 Besuchern kann man nicht faken. Das ist real.

Es ist auch keine Modephase oder ein Trend, zu dem man sich für eine gewisse Zeit hingezogen fühlt bis der nächste Trend kommt. Was wir hier beobachten ist nicht einfach nur eine ästhetische Veränderungen von Musik. Es handelt sich um einen grundlegenden und fundamentalen kulturellen Wandel. Wir werden Zeuge eines Paradigmenwechsels, der sich durch die Gesellschaft zieht und immer weiter wachsen wird. Es findet eine „Hiphopisierung“ der Gesellschaft statt. Deswegen ist HipHop als Kultur auch der Diversitätstreiber Nummer 1.

Zusammen mit der Wissenschaftlerin Reyhan Sahin, dem CEO von Sony Music GSA Patrick Mushatsi-Kareba und der Moderatorin und Gründerin der Agentur KIMKOM Stefanie Kim, habe ich das exemplarisch für den Wandel in der Musikindustrie auf dem Reeperbahn Festival analysiert. Dieser Wandel ist aber auf alle gesellschaftlichen Bereiche übertragbar und wird auch immer sichtbarer. 

Wie HipHop den Wandel in der Musikbranche entscheidend vorangetrieben hat:

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An dieser Zeitenwende haben alle Spieler der HipHop-Kultur die letzten 30 Jahre gearbeitet. Gerade weil es wenig Support von außen gab, wurde dieser Wandel über unabhängige DIY und Indie-Strukturen aufgebaut, die jetzt ihre maximale Kraft entfalten. Diese Kultur wird von den Menschen als Fundament getragen und nicht von der Menge an veröffentlichten Songs.

Rapper*innen sind auch die Künstler, die am stärksten zusätzliche Dinge neben einem Song anbieten. Capital Bra hat die erfolgreichste neue Pizzamarke im Markt etabliert. Edeka, Kaufland, Lidl haben davon bisher fünf Millionen Pizzen verkauft. Seit ein paar Wochen hat Capital Bra eine eigene Eistee-Range im Markt etabliert. Davon sind jetzt bereits mehrere Millionen Tetrapaks verkauft worden. Shirin David hat es 2020 geschafft, zwei Parfüms unter den 10 meistverkauften Düften bei Douglas zu platzieren. Das kann man nicht faken, das ist Ausdruck des allumfassenden Wandels in der Generation U40. Und das waren nur zwei von sehr vielen Beispielen.

Genau deshalb kann man HipHop nicht als reine Musik betrachten, von der es mal zu viel oder mal zu wenig Angebot geben könnte. Das trifft einfach nicht annähernd das Ausmaß dessen, was da draußen stattfindet.

Um die Folgen dieses allumfassenden kulturellen Wandels für Marketing und Kommunikation zu verstehen, machen Philipp Westermeyer, Niko Backspin, Torben Lux und ich den neuen Podcast OMRap. Darin geht es genau um die Übersetzungsleistung die von Nöten ist, um mit der HipHop-Kultur erfolgreich arbeiten zu können.

Video: „Der OMRap Podcast – Warum kulturell sensibles Marketing der Schlüssel zum Erfolg ist?“

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„Rapmusik macht bereits seit einigen Jahren von sich aus was Spotify-CEO Daniel Ek erst letztes Jahr allen Musikern vorgeschlagen hat: mehr und regelmäßiger Releasen“

 

RADIOSZENE: Deutschrapper haben sehr viel kürzere Veröffentlichungszyklen, releasen teilweise mehrere Alben im Jahr. Führt das nicht zwangsläufig zu Ermüdungserscheinungen, zumal sich manche musikalisch kaum weiter entwickeln und textlich oft wenig Neues mitzuteilen haben – nur vielleicht noch einen Tick aggressiver und provokanter?

Falk Schacht: So wie die technischen Limitierungen von 45er-Singles und Jukeboxes dafür sorgten, dass Songs nach drei Minuten enden mussten,  was damals sowohl die Hörer als auch die Künstler als „normal“ lernten zu akzeptierten, so sorgt heute die Streaming-Technologie für veränderte Verhaltensweisen und ein neues „Normal“. Sowohl beim Nutzer als auch beim Künstler.

Deswegen sind viele der neuen Singles aus dem Rap-Sektor nur zwei Minuten lang, weil man so schneller zum einem weiteren Startpunkt kommt und damit erneut Geld verdient. Fans und Künstler*innen einigen sich deshalb ohne Probleme auf diese Veränderungen, die dem älteren Publikum seltsam vorkommen mögen. Aber heute ist das Verhältnis zwischen Fan und Künstler wesentlich enger als es früher war, weshalb die alten Normen und Gewohnheiten nicht mehr gelten.

Deutschrap befindet sich da in einem starken Wandel, was das Thema Album befindet. Es ist zu beobachten, dass die Veröffentlichungsmechaniken sich stark in Richtung Single und EPs wandeln und die Release-Intervalle kürzer werden. 

Rapmusik macht bereits seit einigen Jahren von sich aus, was Daniel Ek erst letztes Jahr allen Musikern vorgeschlagen hat. Mehr und regelmäßiger Releasen. Was man davon hält und ob es nicht einer Art Industrialisierung von künstlerischer Arbeit gleichkommt, ist eine andere Diskussion. Aber folgendes kann man beobachten:

  1. Der erwähnte FOMO Effekt führt dazu, dass man ständig neue Musik möchte, weil man Angst hat etwas zu verpassen. Ist das ermüdend? Die Nutzungszahlen deuten bisher nicht darauf hin.
  2. Der Lifestyle der meisten Rapper*innen ist sowieso davon geprägt ständig neue Songs zu recorden. Dass früher weniger veröffentlicht wurde als heute, liegt an den damaligen strukturellen Bedingungen. Studios mieten, das Label muss mitreden, Fotosessions machen, Video-Treatments einholen und drehen, PR-Arbeit, CDs werden gepresst und mit einem LKW zu Saturn gefahren und so weiter. Das machen heute Rapper*innen alles gleichzeitig mit ihrem Handy. All das was früher Wochen und Monate dauerte, machen sie jetzt in ein bis zwei Tagen und der Song ist online. Die Promo ist am Ende der Release selber. 

Ich verstehe, dass sich die Gatekeeper sorgen, das müssen sie auch! Aber das Spiel nicht mitzugehen und zu versuchen es auszusitzen führt nur dazu, das neue Nokia zu werden.

  1. Die Künstler*innen die mehr und stärker releasen als andere, haben gleichzeitig das größte Wachstum und die am schnellsten wachsenden Social Media-Accounts. Sie sind mehr als Musiker*innen, sie haben ein eigenes Programmangebot. Wer regelmäßig Unterhaltung und Interaktion anbietet wird am meisten frequentiert von den Fans, weil er sichtbar ist.

Das ist natürlich die Gegenthese zum mystischen „Star-Prinzip“, das auf Unnahbarkeit setzt. Aber es funktioniert heute offensichtlich sehr erfolgreich und die Künstler*innen, die auf Unnahbarkeit setzen haben Problemen in der Flut der Veröffentlichungen nicht unterzugehen. Und dabei sind Rapper*innen mehr als Musiker. Es handelt sich um Medienstars, denen man beim Leben zuschauen will. Und noch viel mehr. Immer mehr bieten auch Lifestyle-Produkte an, die von Fans gekauft werden wollen.

Auch werden bereits die ersten disruptiven Effekte bei den Brand-Gatekeppern im Handel sichtbar. Die bereits erwähnte Capital Bra Pizza hätte auch von Dr. Oetker oder Wagner sein können. Man hat sich aber dagegen entschieden, weil es „zu riskant wäre“. Capital Bra ist es egal, sein Geld bekommt er trotzdem. Das Dr. Oetker- und Wagner-Geld hingegen verdient jetzt ein mittelständischer Pizza-Produzent. 

Was bedeutet das fürs Radio? Ganz simpel: wer den Wandel vor der Tür des Senders nicht innerhalb des Senders abbildet, wird in Zukunft massive Schwierigkeiten haben.

  1. Die von Ihnen befürchtete fehlende Abwechslung eines Künstlers wird heutzutage kompensiert durch die größere Auswahl an Songs anderer Künstler. Alles ist immer nur einen Klick weg – deshalb der FOMO Druck – deshalb die heutige Schwäche des Prinzips „Unnahbarkeit“.
  2. Der Eindruck künstlerischer Eintönigkeit kann entstehen, wenn man Deutschrap nur auf Gangsta und Strassenrap verkürzt. Und das kann schnell passieren, weil sie die auffälligsten Vertreter des Deutschraps sind. Weil sie so viel Provokationspotential bieten, aber der wesentlich größere Teil der Deutschrap-Künstler ist wahnsinnig divers und umfasst viele Facetten. Es gibt Neo-HipHouse, Schlager Rap, Pop Rap, Country Trap, Future Bass und so weiter. Es gibt für jede Zielgruppe die funktionierende Rap Musik. Man muss sie nur finden wollen.

 

„Wer den Wandel vor der Tür des Senders nicht innerhalb des Senders abbildet, wird in Zukunft massive Schwierigkeiten haben“

 

RADIOSZENE: Musikalisch sind in der Tat zuletzt bei vielen erfolgreichen Produktionen noch stärkere Annäherungen zu Pop, Rock, Dance/Electro – generell auch in Richtung Mainstream – erkennbar. Wohin entwickeln sich gerade Deutschrap und HipHop?

Falk Schacht: Rapmusik an sich ist ja Sprechgesang auf Rhythmus, der Rhythmus darunter kann alles sein und deswegen gibt es keine Grenzen. Es wird weiter wachsen und noch mehr Crossover-Formen geben. Aber das ist wichtig zu verstehen: Das alles ist immer aus einer HipHop-Sicht heraus gedacht und entwickelt, nicht andersherum.

RADIOSZENE: Wo steht die Szene im Jahr 2021? Erwarten Sie hier vergleichbare Einflüsse wie in den USA, wo sich Rap inzwischen erfolgreich verheiratet mit zahlreichen anderen Einflüssen in den Charts wiederfindet?

Falk Schacht: Das Wesen der HipHop-Kultur und von Rapmusik ist immer eine hybride Form. Es kann alles sein. Weil es alles andere samplet und remixt und zu neuem Leben erweckt. Lil Nas X und “Old Town Road“ fanden viele ungewöhnlich, dabei gibt es seit 30 Jahren eine so genannte „Hick-Hop-Szene“ in den USA, auch Redneck-Rap genannt. Die bei uns bekanntesten Künstler sind Kid Rock, Everlast, Bubba Sparxxx und so weiter. Und Old Town Road gehört zur modernsten Entwicklung im „Hick-Hop Sektor – Country Trap“. Hier ein anderes Beispiel:

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RADIOSZENE: Wie stark beeinflusst noch fremdsprachiger Rap die deutsche Szene?

Falk Schacht: Es gibt von außen natürlich viele Einflüsse. Afro Trap, wie bei den Palmen aus Plastik-Alben von Raf Camorra und Bonez MC, waren ein Einfluss aus Frankreich der hier fast 3 bis vier Jahre die Top 10 prägte. In Frankreich selber war der Style nicht so überdominant wie in Deutschland. Die kulturelle Hoheit, was als cool und hip empfunden wird, hat sich gewandelt. Deutschrap gibt den Ton an und nicht mehr so sehr Rap aus anderen Ländern.

RADIOSZENE: Welche Subgenres des Rap sind derzeit besonders angesagt?

Falk Schacht: Der Afro Trap-Hype der letzten Jahre hat sich komplett gelegt. Zurzeit wird viel mit dem UK Drill-Phänomen experimentiert. Andere Bereiche experimentieren mit 4 to the floor-Bassdrums. Der Hit „Airwaves“ von Pashanim ist da ein Treiber gewesen. Ob sich das fortsetzt bleibt abzuwarten. Wo wahnsinnig viel experimentiert wird, ist mit Gesang auf Trap-artigen Beats. Der Erfolg von Apache207 leistet seinen Beitrag dazu. Außerdem explodiert das Thema rappende Frauen. Da passiert gerade unfassbar viel in alle Richtungen, von total poppig bis Gothic-artigem Horrorcore.

Trap Metal nimmt gerade auch starke Fahrt auf. Vor Corona gab es Acts wie Ghostemane, der in Deutschland bereits im Schnitt vor 1000 Leuten spielte. Sein letztes Album klingt wie eine Mischung aus Marylin Manson und Trap. Deutsche Varianten davon sind Grafi, Contrast, Haxan und Bae.con. Das ist eine wohltuende Erfrischung für den Sektor der härteren Musik.

Und auch im Jazz-, Soul- und Pop-Sektor passieren sehr viele interessante Dinge. Von Brockhampton über Anderson .Paak, Thundercat zu Arlo Parks, Balthazar, Tuxedo und so weiter. Und ich sehe auch Experimente mit Chanson Trap wie von BSSMNT feat. Lous and The Yakuza.

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Das sind alles Styles, die früher oder später auch in Deutschland Einzug halten werden. Es ist alles da und sehr spannend. Nur sehe ich davon viel zu wenig auf den Flächen, wo das ein Publikum finden könnte.

Hier geht es zu Teil 2 des Interviews mit Falk Schacht