Über „Die Stunde der Stars“ und die „Bereitschaft zu scheitern“

Viktor Worms (Bild: WMP)Keine Angst, dies wird kein Jahresrückblick und noch weniger der Versuch zu erklären, was dieses Jahr 2020 mit uns und unserer Gesellschaft gemacht hat. Da gibt es schlauere Köpfe und auch die stochern im Dunkel. Gleichwohl ist am Ende dieses Jahres alles ein bisschen und vieles ganz anders. Wir haben uns verändert, unser Leben hat sich verändert und die Anforderungen an unser geliebtes Medium Radio haben sich verändert. Also müssen auch wir uns und unsere lieb gewonnenen Gewohnheiten einfach mal überdenken.

Ja, da ist die Digitalisierung und die hat noch einmal einen gewaltigen Schub bekommen und das nicht nur, weil wir im Home-Office arbeiten, Redaktionen verwaist sind und die Etats kleiner werden. Soziologen sprechen in diesen Tagen von „Retrotrends im digitalen Zeitalter“. Dahinter verbirgt sich ein neues oder wiedererwachtes Bedürfnis nach Intimität und Geborgenheit, eine analoge Sehnsucht. Und da kommen wir mit unserem guten alten Radio wieder ins Spiel.

Menschen ziehen sich in diesen Tagen notgedrungen in kleinere Einheiten zurück, sie suchen und finden im Vertrauten vielleicht ein bißchen verlorene Sicherheit und wir als Radiomacher wären schön blöd, wenn wir dies nicht zur Kenntnis nehmen würden. Der klassische Rundfunk hat die Menschen immer durch ihren Alltag begleitet und wenn sich dieser Alltag verändert, müssen auch wir uns verändern. Damit meine ich nicht nur das gestiegene Informationsbedürfnis! Seriöse Nachrichtenprogramme und das Medium Podcast erleben einen Boom, Virologen werden zu Medienstars – klar!

Aber was sind Stars?

Deutscher Radiopreis 2020 - Sonderpreis des Beirats Sonderpreis des Beirats für Virologe Prof. Dr. med. Christian Drosten (Bild: © NDR/Morris Mac Matzen)
Dr. Christian Drosten (Bild: © NDR/Morris Mac Matzen)

Was ist es, was Dr. Drosten, die Herren Kekule und Wieler so allgegenwärtig gemacht haben. Sie haben uns etwas zu sagen und tun dies im besten Fall in verständlicher und zugewandter Form. Sie haben das Prinzip verstanden. Ich habe hier an dieser Stelle immer wieder die Fahne des Personality-Radio geschwungen und meiner Liebe zu den besonderen Talenten Ausdruck verliehen.

Heute tue ich dies mehr denn je und meine Liebe zu den besonderen Talenten wird eher größer und meine Aufforderung an die Medienverantwortlichen „Zeigt ihnen den Weg und laßt sie von der Leine“ wird noch viel eindringlicher in diesen Zeiten. Stars brauchen einen geschützten Raum, indem sie etwas ausprobieren dürfen und zum Ausprobieren gehört natürlich immer die Bereitschaft zu scheitern.

BAYERNWELLEIch möchte ein Beispiel nennen aus dem Beginn der Pandemie im März dieses Jahres. Ich fahre durchs bayerische Oberland und höre einen kleinen Regionalsender, die „Bayernwelle“. Die Kollegin am Mikrofon macht eigentlich nichts Besonderes, sie läßt einfach nur Menschen miteinander reden. Sie schaltet Kinder mit ihren Omas und Opas zusammen und nimmt sich dabei selber total zurück. Die Länge der Talks ist egal und der Hörer spielt nur Mäuschen, während sich zwei empathische Menschen miteinander unterhalten und sich aus ihrem Leben erzählen: „Omi, ich bin ganz sicher, wir sehen uns bald wieder!“ Und auf einmal ist die Welt in aus den Fugen geratenen Zeiten wieder ein kleines bisschen in Ordnung und steigende Inzidenzwerte sind für ein paar Minuten vergessen. Ich habe in diesen knapp 10 Minuten weder „den besten Mix“ noch einen „größten Hit der 80er, 90er oder von heute“ vermißt und nicht einmal Karl Lauterbach hätte mir an diesem Tag noch die Laune verderben können. Mein persönlicher Radiopreis 2020 geht an diesen Moment.

Helmut MarkwortIch habe an diesem Mittag im Berchtesgadener Land an die schönste Zeit meiner ganz persönlichen Radiogeschichte gedacht. 1988 saß ich mit Helmut Markwort in dessen Münchner Büro zusammen und wir diskutierten die ersten Überlegungen zu einem Programm, das ein knappes Jahr später auf Sendung ging, Antenne Bayern! Wir gingen auseinander und Markwort prägte den Satz: „Ab September machen wir etwas ganz Neues und wir hören nie wieder damit auf Neues zu machen!“ Seitdem ist für mich gutes Radio die Fähigkeit, alles Liebgewonnene immer wieder in Frage zu stellen, den Menschen etwas bedeuten zu wollen und an ihrem Leben teilhaben zu dürfen. Es ist die Stunde der Stars, der Kreativität und auch der Bereitschaft zu scheitern! Wenn nicht jetzt, wann dann?


Über den Autor

Viktor Worms (Bild: WMP)

Viktor Worms moderierte die ZDF Hitparade, war Programmdirektor bei ANTENNE BAYERN und ZDF-Unterhaltungschef. Er war in den vergangenen Jahren als Strategie- und Moderationscoach u.a. tätig für REGIOCAST, ZDF und das Bayerische Fernsehen, DRadio Wissen, bigFM, ROCK ANTENNE sowie die ARD.ZDF Medienakademie. Er ist seit 2015 Jurymitglied des Deutschen Radiopreises. Neben seiner Tätigkeit als TV Producer ist er Vorstand der Hugo-Tempelman-Stiftung sowie Beirat der Tabaluga Kinderstiftung.