Radio und die Musik-Genres HipHop und Rap führen in Deutschland eine eher komplizierte Beziehung. So spiegelt sich das derzeitige Verhältnis erfolgreicher Rap-Hits aus den Top 100- und Streaming-Bestenlisten kaum adäquat in den Musikplänen deutscher Sender wider. Zwar finden sich auf den Playlisten vieler Programme auch vermeintliche HipHop-Songs, diese haben allerdings musikalisch und textlich kaum noch etwas mit dem Genre gemein, sind bestenfalls als „Rap-Light“ oder – um es deutlich zu einzuordnen – eher als Deutsch-Pop einzustufen. Hohe Rap-Anteile im Radio sind am ehesten in hoher Zahl hörbar bei Stationen in urbanen Räumen wie Berlin oder Bremen zu finden. Allerdings ist die Anzahl journalistisch gut gemachter HipHop/Rap-Specialshows (vor allem bei den jungen Programmen) zuletzt erfreulicherweise weiter gewachsen.
Die Zurückhaltung vor allem gegenüber hartem Deutschrap hat Gründe. So signalisieren die Hörerbefragungen der meisten Sendern übereinstimmend klare Aussagen: Einer hohen Zustimmung im spitzen Segment eines jungen, urbanen, vorwiegend männlichen Milieus, steht die deutliche (bis krasse) Ablehnung in sehr weiten Teilen der übrigen Hörerschaft gegenüber. Zudem erweist sich die Kurzlebigkeit vieler so genannter Rap-Erfolgshits aus den Musikbestenlisten als wenig geeignet für das Radio. Ein guter Teil der Songs erreicht mit brachialer Unterstützung von Social Media-Plattformen wie TikTok und (gelegentlich fragwürdiger) Streaming-Power über Nacht hohe Chart-Platzierungen, fällt kurz darauf aber wieder zurück in die Tiefen der Vergessenheit. Passen so also kaum in das auf Nachhaltigkeit und hohen Wiedererkennungswert ausgelegte Konzept der Hörfunkprogramme. Ein weiteres, und oft diskutiertes, Killerkriterium ist die inhaltliche Sendefähigkeit der Texte zahlreicher Titel.
Dabei haben sich ausgerechnet drei Radiolegenden als Geburtshelfer von deutschsprachiger Rapmusik hervorgetan. So erreichte im April des Jahres 1980 der Song „Rapper’s Deutsch“, vorgetragen von der Formation G.L.S.-United, immerhin Platz 49 der Deutschen Singlecharts. Es handelte sich dabei um eine parodistische Coverversion des berühmten Hits „Rapper’s Delight“ der US-amerikanischen HipHop-Band Sugarhill Gang.
G.L.S.-United, die nur dieses einzige Lied aufnahmen, bestand aus Thomas Gottschalk (BAYERN 3), Frank Laufenberg (SWF 3) und Manfred Sexauer (SR 1 Europawelle). Die drei Protagonisten trugen innerhalb des Songs einen Generationenkonflikt der damaligen Zeit aus: Laufenberg erzählt, welche Bands und Sänger in den 1960er-Jahren angesagt waren und welche Erinnerungen er an diese Zeit hatte. Anschließend schwärmte Sexauer von den 1950ern, wohingegen Gottschalk schließlich die damals angesagte aktuelle Musik hochleben ließ.
Das Stück wurde von Harold Faltermeyer produziert. Der deutsche Text stammt von Horst Mittmann und Michael Bollinger (ehemaliger Redakteur und Comedy-Experte bei SWF3/SWR3).
„Irgendwie ist alles ein bisschen HipHop“
Martin Böttcher produziert als Redakteur gemeinsam mit Moderatorin Mara Spitz beim Hamburg Musiksender ByteFM jeden Freitag eine Sendung, bei der deutschsprachigen Rap-Tracks auch jenseits der Charts im Mittelpunkt stehen. Die beiden Macher der Show sind ausgewiesene Kenner der deutschen Sprechgesangszene. Mara Spitz, beispielsweise, hat ihre Masterarbeit über Geschlechterrollen im Deutschrap geschrieben und kuratiert heute bei einer Streamingplattform die Deutschrap-Playlisten.
Im Interview mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich spricht Martin Böttcher über die neue Show bei ByteFm und erläutert Entwicklungen innerhalb der deutsche HipHop- und Rap-Landschaft.
RADIOSZENE: Herr Böttcher, Sie gelten als aufmerksamer Beobachter der Rap- und HipHop-Szene. Mit beiden Begrifflichkeiten wird ja bisweilen scheinbar willkürlich hin- und herargumentiert. Können Sie uns die Unterschiede zwischen beiden Genres darlegen?
Martin Böttcher: Wir fangen also ganz am Anfang der Geschichte des Sprechgesangs an … Rap und HipHop werden heute ziemlich oft gleichberechtigt benutzt und meinen umgangssprachlich beide das Gleiche, nämlich die Rap- oder HipHop-Musik. Wenn man etwas genauer oder sogar wissenschaftlicher rangehen will, dann ist „Rap“ nur ein Teil der größeren HipHop-Kultur, zu der je nach Definition neben diesem Sprechgesang (oder MCing) noch anderen Elemente gehören, vor allem das DJing (oder Turntablism), das Sprühen (Graffiti/Writing), das Tanzen (B-Boying/B-Girling oder auch Breakdancing). Wenn man will, kann man auch HipHop-Streetfashion, Beatboxing oder das Wissen um HipHop („Knowledge“) zu den elementaren Bestandteilen der großen HipHop-Kultur zählen. Also irgendwie ist alles ein bisschen HipHop. Aber Rap ist eben nur die Musik.
RADIOSZENE: Wie haben sich die Definitionen von Rap und HipHop im Lauf der Jahre gewandelt?
Martin Böttcher: Ich kann dazu nicht so viel sagen, aber meiner Ansicht nach hat sich da nicht so viel geändert. Rap war von Anfang an, als die ersten Leute in der New Yorker Bronx damit angefangen haben, Rap. Nach und nach wurde aber klar, dass dazu eben mehr gehört als nur die Musik, deshalb auch der Begriff HipHop. Was vielleicht noch ganz interessant ist: Am Anfang waren die Rapper*innen oder MCs, wie sie auch genannt wurden, nicht immer die wichtigsten Beteiligten. Grandmaster Flash etwa war kein Rapper, sondern ein DJ und Turntablist, der viele der Techniken, die im HipHop eine Rolle spielen, erfand oder populär machte. Später dann wurde klar, dass sich Rap super eignet, um damit auch Themen zu transportieren, Chuck D von Public Enemy sprach vom „CNN for black people“. So etwas braucht natürlich überzeugende Protagonisten, sprich Rapper.
RADIOSZENE: Zu Beginn der Rapmusik in Deutschland wurde teils auch sehr eng zwischen verschiedenen Szenen unterschieden, also beispielsweise der Hamburger Schule oder Rödelheimer Szene. Hat sich dieses Lagerdenken inzwischen aufgelöst?
Martin Böttcher: Also es ist immer noch so, dass sich in einzelnen Städten oder Gegenden Leute zusammenfinden können, um gemeinsam etwas aufzubauen, die 102 Boyz etwa kommen aus Ostfriesland und sind eine Crew, die KMN Gang ist in Dresden zu Hause et cetera. Aber weil es inzwischen so viele verschiedene Rapper*innen gibt, geht es meiner Ansicht nach nicht mehr um zum Beispiel „die“ Hamburger oder „die“ Berliner Szene, sondern das funktioniert anders: man gehört dann eben zu einem Label oder zur 187 Straßenbande, von der man zwar weiß, dass sie in Hamburg zu Hause ist, aber sie steht nicht für einen „Hamburger Sound“, sondern für den 187er-Sound. Davon mal abgesehen, ist Identität für viele Rapper*innen wichtig: Welches ist mein Viertel, welches mein Block, was ist meine Stadt, wo komme ich her, wo liegen meine Wurzeln, wer sind „meine Leute“? Das wird in vielen Tracks thematisiert. Und es gibt es auch immer mal wieder Geschichten, dass ein Rapper einem anderen „Stadtverbot“ erteilt, also ihm quasi zu verbieten versucht, dort aufzutreten. Aber das hat dann mit der Musik nicht mehr viel zu tun.
„Identität ist für viele Rapper*innen wichtig“
RADIOSZENE: Seit April 2020 gestalten Sie als Redakteur auf ByteFM eine wöchentliche Rap-Show. Moderiert wird die Sendung von Ihrer Kollegin Mara Spitz. Was erwartet die Hörer bei „DeutschRap“?
Martin Böttcher: Als Redakteur und Producer von DeutschRap kümmere ich mich inhaltlich um die beiden Rubriken „Deutschrap-Klassiker“ und „Deutschrap-Rewind“ und sorge dafür, dass die Sendung gut klingt. Beim „Klassiker“, wie der Name schon sagt, graben wir tief in der Geschichte von deutschem Rap, erzählen die Entstehungsgeschichten von einzelnen, zum Teil jahrzehntalten Tracks oder auch etwas über die Macher*innen dahinter und spielen dann den entsprechenden Song. Im „Rewind“ werfe ich einen Blick auf die zurückliegende Woche: Welche kleinen und großen Geschichten aus dem Deutschrap-Kosmos haben sich ereignet, wie kann man die mit kurzen O-Tönen und Schnipsel erzählen?
Ansonsten läuft in der Sendung nur deutschsprachiger Rap, ausgesucht von der Moderatorin Mara Spitz. Das sind oft ganz neue Songs, zum Teil von den Stars des Genres, zum Teil von noch unbekannten Künstler*innen. Unser Anspruch bei ByteFM dabei: Bitte keine rassistischen, homophoben, sexistischen, menschenverachtenden Songs. Das heißt nicht, dass wir nur weichgespülten, sauberen, jugendfreien Deutschrap spielen. Aber wenn es in Songs, die wir gut finden, die wir spielen wollen, problematische Zeilen gibt, dann ordnen wir die in der Moderation ein. Wir sind nicht Zensor, aber haben auch keine Lust, unseren begrenzten Platz an Künstler*innen zu vergeben, die unsere Ohren bluten lassen.
RADIOSZENE: Im deutschen Radio tut sich Rap schwer. Selbst eher „junge Formate“ wie Energy verfügen lediglich über geringe Anteile, argumentieren, dass das Genre nur bei einer vergleichsweise sehr spitzen Hörergruppe ankommt. Ist Rap eher ein Fremdkörper im Radio oder schwingt hier auch die Angst vor unbequemen Texten mit?
Martin Böttcher: Schwer zu sagen, finde ich, da dürfte jeder Sender seine eigenen Beweggründe haben. Fakt aber ist, dass es ja sogar Sender gibt, in denen wurde ein regelrechtes Rap-Verbot verhängt. Ich schätze, dass da mehrere Sachen zusammenkommen: Rap spricht nun mal eine deutliche Sprache, besonders der Straßen- oder Gangster-Rap, den ja viele meinen, die sich über Rap als solchen beschweren. Nicht nur die Wortwahl, auch die Themen sind sehr viel handfester als das, was zum Beispiel ein Tim Bendzko absondert: Konsumkritik, Antirassismus, Gewalt, Drogen, Sex, psychische Probleme – all das kommt relativ ungefiltert im Rap vor. Auch musikalisch ist Rap fordernder als melodischer Pop, der Sprechgesang kommt dringlicher ins Ohr als weiche Melodien. Aber da hat sich durch den inflationären Gebrauch von Autotune natürlich was getan in der letzten Zeit. Rap klingt durch den „Cher-Effekt“ eingängiger. Genauso wie in der Musik selbst. Da ist ja inzwischen auch vieles erlaubt, die Beats sind vielseitiger geworden. So richtig verstehe ich deshalb nicht, warum man Rap für einen Stör- oder Ausschaltfaktor hält. Vielleicht ist es wirklich die Angst, die ein oder andere anstößige oder auch hochproblematischen Zeile zu übersehen. Man muss ja manchmal ganz genau hinhören, was da gerappt wird. Wie gesagt, ich verstehe trotzdem nicht, wie man diese so erfolgreiche Musik komplett ignorieren kann. Aber ich verstehe auch nicht, warum man sich freiwillig Max Giesinger oder Robin Schulz anhören sollte, deshalb bin ich in dieser Frage möglicherweise nicht der richtige Ansprechpartner.
„Die Beats sind vielseitiger geworden“
RADIOSZENE: Welche Subgenres von Rap sind derzeit besonders angesagt?
Martin Böttcher: Ich bin mir nicht sicher, ob man das so eindeutig sagen kann. Klar ist, dass sich einiges vermischt hat. Capital Bra zum Beispiel kombiniert ja Straßenrap mit Pop-Momenten, Apache 207 packt noch ein bisschen R’n’B dazu – oder rappt beziehungsweise singt fast ohne Beats auf Synthie-Flächen. Ufo361 hat Elemente von Trap und Cloud Rap in seinen Stücken, Trettmann auch, plus ein paar von jamaikanischem Dancehall inspirierten Sounds. Afrobeats, Sounds aus Westafrika spielen eine Rolle. Was im Augenblick meiner Ansicht nach relativ schlechte Karten hat, ist Old-School-HipHop. Aber ich bin mir sicher: irgendwann gibt es auch da wieder ein Revival und alles klingt auf einmal wieder nach 90er-HipHop.
RADIOSZENE: Zumindest in den Single-Charts ist Deutschrap derzeit absolut dominant, was allerdings auch der hohen Streaming-Beimischung in den „Offiziellen Charts“ geschuldet ist. Mit ein Erfolgsgeheimnis dürfte die Marketing-Strategie der Rap-Szene sein, sich sehr intensiv der sozialen Medien wie beispielsweise TikTok und so weiter zu bedient. Was macht die Branche hier besser als andere Musiksparten?
Martin Böttcher: Es sind nicht nur die Single-, sondern auch die Album-Charts, in denen Deutschrap große Erfolge feiert. Und ein Teil der Erfolgs in den Album-Charts hat auch damit zu tun, dass viele Rapper*innen zum Release auf ihre exklusiven, limitierten und teuren Boxen setzen, in denen die unglaublichsten Dinge zu finden sind. Mert zum Beispiel hat eine Döner-Maschine zur CD gepackt. Das ist lustig, innovativ, größenwahnsinnig und bringt Geld.
Ich glaube aber, dass der Erfolg in den Charts in allererster Linie damit zu tun hat, dass Deutschrap diejenigen, die sich damit beschäftigen, emotional total beschäftigt. Das fängt bei den Themen an, über die gerappt wird, es geht weiter über die unglaublich vielen neuen Tracks und Alben, die Woche für Woche veröffentlicht werden und über die man wunderbar streiten kann. Es hat natürlich auch was mit der Sprache zu tun: Jede*r kann mitreden, weil man alles sofort versteht. Es ist aber auch aufregend, mitzuerleben, wie sich Rapper*innen verbünden, streiten, bedrohen, vertragen – das ist manchmal wie in einer Soap-Serie. Kein anderes Genre in Deutschland beschäftigt sich so sehr mit aktuellen Themen und spiegelt, so sag ich das jetzt als Musikjournalist mal etwas gestelzt, gesellschaftliche Entwicklungen wider. Dazu kommt: Instragram, die Videostreaming-Plattform Twitch, TikTok, zum Teil auch Twitter sind einfach ideale Kanäle für Musiker*innen, die keine Scheu davor haben, etwas von sich preiszugeben. Einfach eine Story raushauen, ohne jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, schon spricht die halbe Welt über einen. Und wenn man nächste Woche was ganz anderes sagt, dann ist das halt so. Es geht darum, im Spotlight zu bleiben, und zwar zum Teil auch ohne großen Apparat dahinter. Denn gar nicht so wenige Musiker*innen aus dem Deutschrap-Bereich haben ja auch ihr eigenes Label und müssen sich um vieles selbst kümmern. All das machen viele Leute aus dem Deutschrap-Bereich ziemlich gut und spielerisch, so, wie es eben auch die User und Follower selbst machen. Wer da mitmischen und gleichzeitig jederzeit die Kontrolle über alles behalten will, hat eigentlich keine Chance.
Und noch eins: Früher war es ja so, dass Musiker*innen, die im Radio nicht stattfanden, eigentlich nicht groß wahrgenommen wurden. Das ist jetzt anders, weil ja mit den Streamingdiensten jederzeit alles zur Verfügung steht. Wozu vergeblich darauf warten, dass ein Sender mal einen Deutschrap-Track spielt, wenn ich doch tausende in Streamingdienst-Playlisten finden kann? Oder aber ich schalte freitags um 18 Uhr ByteFM an und höre mir eine Stunde lang bei „DeutschRap“ an, was es so Neues und Interessantes aus dem Bereich gibt, praktisch eine Essenz.
„Kein anderes Genre in Deutschland beschäftigt sich so sehr mit aktuellen Themen und spiegelt gesellschaftliche Entwicklungen wider […wie Rap]“
RADIOSZENE: Lange galt Rap als musikalisch eher limitiert, im Vordergrund standen naturgemäß die Texte. Inzwischen hat sich das Genre für zahlreiche Einflüsse geöffnet, die arabischen Rap-Sounds stehen hoch im Kurs und viele Produktionen von angesagten Rappern sind heute mehr Pop als Sprechgesang. Stützen Sie die Beobachtung?
Martin Böttcher: Wie schon erwähnt: Da hat sich in den letzten Jahren viel getan, da hat sich viel vermischt. Aber schon die Fantastischen Vier waren ja Pop und HipHop. Kommerziell erfolgreicher Rap wie zum Beispiel der von Marteria hat oft mit Pop geliebäugelt, Cro hat seine Musik sogar „Raop“ genannt, also eine Mischung aus Rap und Pop. Es hat sie also schon immer gegeben, die Versuche, HipHop auf ein neues Level zu hieven. Die Frage ist natürlich, wie weit man geht für den Erfolg. Kay One etwa hat mit Bushido angefangen und singt mittlerweile mit Pietro Lombardi hart am Schlager. Aber insgesamt stimmt es wohl, dass Deutschrap musikalischer, melodischer, poppiger geworden ist und sich seine Einflüsse von überall herholt.
RADIOSZENE: Jedoch bedient eine gute Zahl an Rappern ihre Fans weiter mit den bekannten Klischees. Sie artikulieren Wut, Protest, Aggression. Setzen dabei oft auch auf sich häufig wiederholende Parolen, provozieren mit Ausfällen gegen die Polizei, Verherrlichung von Drogen, präpotenten Fantasien, Homophobie und zeichnen ein bisweilen unterirdisches Frauenbild. Auch wenn diese Texte als aufgesetzte Provokation oder Satire gemeint sind, werden diese Aussagen von vielen jugendlichen Fans gelegentlich nicht missverstanden? Passen sie überhaupt in unser derzeit ohnehin aufgeheiztes Gesellschaftsklima?
Martin Böttcher: Das ist ein komplexes Thema, bei dem ich hin- und hergerissen bin. Ich versuche das mal differenziert zu beantworten. Ja, in vielen Tracks wird Wut, Protest, Aggression geäußert. Aber warum auch nicht? Wir leben ja in einer Welt, die an so vielen Ecken kaputt ist, darüber kann man wütend sein. Außerdem: Alle sind wütend, warum nicht auch die HipHop-Welt? Viele der Rapper*innen haben ja auch Benachteiligung, die kaputten Verhältnisse, das Gefühl, nicht gewollt zu sein, selbst erlebt. Und wie wir gerade bei der Diskussion über Polizeigewalt und strukturellen Rassismus erneut hören können: Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit dunkler Hautfarbe, Menschen, die als „nicht deutsch“ gelesen werden, was ja auf viele der Künstler*innen im Deutschrap zutrifft, haben allen Grund, gegenüber der Polizei skeptisch zu sein. Natürlich äußert sich das dann auch in den Texten, das ist Kritik an den Verhältnissen, Kritik an den Herrschenden und ihrem verlängerten Arm, der Polizei.
Dass in Rap-Tracks immer wieder thematisiert wird, dass man selbst der oder die Größte ist, die anderen eher nichts, wurde der Musik, die in den Ghettos der Bronx erfunden wurde, quasi in die Wiege gelegt. Das sehe ich einfach als ein Fortführen der Tradition an.
Die schwierigsten Themen sind für mich Homophobie und Frauenfeindlichkeit. Da wird ja oft argumentiert, dass beides auch in der „normalen“ Gesellschaft existieren würde, im HipHop würde sich das dann eben auch finden, als eine Art Spiegelung der Gesellschaft. Klar, ist so, aber ich halte das trotzdem für eine Schutzbehauptung, um sich vor der eigentlichen Diskussion zu drücken. Und diese Diskussion müsste fragen, warum im Hip-Hop überhaupt Männer erfolgreich sind, die es ok finden, sich abfällig über Frauen und Homosexuelle, über vermeintlich Schwächere zu äußern. Die Diskussion innerhalb der HipHop-Szene kommt da auch nicht so richtig weiter, was auch daran liegt, dass der ein oder andere Rapper entsprechende Berichterstattung mit Hilfe von Anwälten zu unterdrücken sucht. Aber wahr ist natürlich auch, dass es überall in der Gesellschaft so viele Stellen gibt, an denen Frauen benachteiligt werden, da kann ich mir als Journalist oder Kritiker auch gerne erst einmal an die eigene Nase fassen. Inwieweit entsprechende Rap-Texte die Gedankenwelt von jugendlichen Fans formen, weiß ich nicht. Bei dem ein oder anderen wird da wohl schon etwas hängenbleiben, aber das ist ja eine Diskussion, die auch auf anderen Ebenen schon lange geführt wird: Schaffen Computerspiele schlechte Menschen? Stumpfen Actionfilme ab? So pauschal kann man das meiner Ansicht nach nicht sagen, weder über Computerspiele noch über Rap.
„Rap klingt durch den ‚Cher-Effekt‘ eingängiger“
RADIOSZENE: Aktuell passiert, was in der Vergangenheit schon vielen Musiktrends im größten Erfolg zum Verhängnis wurde: der Markt wird mit einer Vielzahl von HipHop- und Rap-Veröffentlichungen geflutet. Dazu kommt, dass die Stars der Szene in immer kürzeren Zyklen neue Stücke und Alben auf den Markt bringen. Birgt diese Entwicklung nicht einen schon bald zu erwartenden Overkill … zumal ein guter Teil der neuen Künstler oft nur neuen Wein in alten Schläuchen servieren? Schließlich ist die Zielgruppe nicht beliebig ausbaubar …
Martin Böttcher: Deutschrap wird ja in der Hinsicht manchmal mit Punk oder mit der NDW verglichen. Der entscheidende Unterschied dürfte aber sein, dass es deutschen Rap schon so lange gibt – der erste ernstzunehmende Track namens Ahmet Gündüz wurde 1989 von der Fresh Familee veröffentlicht. Das sind über 30 Jahre deutschsprachiger Rap! In dieser Zeit hat sich das Genre immer weiterentwickelt, es ist immer aktuell geblieben, es hat immer mehr Fans angezogen, es hat aber auch schon die ein oder andere kreative Krise erlebt und überstanden. Klar, im Augenblick herrscht auch ein bisschen Goldgräberstimmung, die Follower- und Streamingzahlen sind bei manchen Rapper*innen so unglaublich hoch, die Aussicht auf Ruhm und Geld zieht viele an. Ich finde das aber super, so viele verschiedene Stimmen, so diverse Lebenswirklichkeiten hören zu können. Musikalisch, glaube ich, muss man sich um HipHop keine Sorgen machen, da wird es neue Trends, neue Moden geben, die müssen auch nicht bei uns erfunden werden, HipHop funktioniert ja weltweit. Bei den Themen, bei den Inhalten bin ich ein bisschen unsicher, was die Zukunft angeht. Aber wahrscheinlich wird auch da immer wieder jemand kommen, der noch einmal einen neuen Ton setzt, über neue Themen rappt, den Zeitgeist einfängt, auch wenn es gerade so aussieht, als würde sich Deutschrap vor allem mit Markenfetischismus und Konsum beschäftigen.
RADIOSZENE: Zuletzt sind immer mehr Rapperinnen im Markt präsent. Auch ein Zeichen, dass das Genre jetzt auch bei der weiblichen Nutzerschaft angekommen ist?
Martin Böttcher: Auf jeden Fall ein Zeichen, dass ein Bedürfnis nach weiblichen Stimmen und Positionen besteht, nach vielen verschiedenen weiblichen Stimmen. Aber es ist wohl noch ein langer Weg, bis auch hier so etwas wie Gleichberechtigung entsteht. Noch immer ist das Deutschrap-Business ein männerdominiertes Business, in dem es Frauen ziemlich schwer haben. Was die Fans angeht: Ich bin mir sicher, dass es viele weibliche Fans gibt, die froh sind, auch mal eine weibliche Perspektive in ihrer Lieblingsmusik geliefert zu bekommen. Wird spannend, wie das weitergeht und welche Künstlerinnen in diesem Prozess noch auftauchen werden. Aber da ist auf jeden Fall noch viel Platz für Rapper*innen.
RADIOSZENE: Beim Blick auf die deutschen Bestenlisten und Streaming-Werte dominieren hier ganz klar die nationalen Künstler, während internationale Rap-Produktionen zuletzt weniger in den Charts auftauchen. Können Sie sich diese Entwicklung erklären? Liegt dies tatsächlich nur an den verständlichen Texten, wie manche behaupten?
Martin Böttcher: Ich habe das weiter oben schon mal angerissen, dass es da meiner Ansicht nach ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren gibt. Verständlichkeit ist wichtig, die ganzen Wortwitze und Reime sind in anderen Sprachen praktisch nicht zu verstehen. Mit der Verständlichkeit geht einher, dass die Texte authentisch sind oder zumindest so wirken. Diese Zeilen sind oft so persönlich, so hart, die müssen aus dem Herzen kommen! Aber es gibt auch andere Faktoren für den Erfolg von Deutschrap: Man kann sich viel einfacher mit den Rapper*innen „von nebenan“ identifizieren. Die sehen aus wie junge Leute in der deutschen Großstadt eben aussehen. In Berlin, wo ich herkomme, sieht man sie ja auch immer mal wieder: Ali Bumaye stand vor ein paar Tagen in Kreuzberg neben mir an der Ampel. Fler ist vor Kurzem umgezogen, er wohnt jetzt bei meinen Eltern um die Ecke. Vor meiner Tür sind neulich einige Autos angezündet worden. Drei Tage später haben ein paar Rapper auf der Ruine eines Ford Mustangs ihr Musikvideo gedreht. Auch nicht ganz unwichtig dabei: Deutschrap ist keine „uncoole“ Musik, sondern kann es von der Qualität her mit dem Original aufnehmen. Und dann hört man vielleicht lieber, was man versteht, wenn es vom Klang her ähnlich gut ist.
„Deutschrap ist keine ‚uncoole‘ Musik, sondern kann es von der Qualität her mit dem Original aufnehmen“
RADIOSZENE: Haben Sie eine Vision in welche Richtung sich Rap und HipHop absehbar entwickeln werden?
Martin Böttcher: Wenn ich das wüsste, könnte ich vielleicht viel Geld verdienen. Es dürfte auch davon abhängen, wie sich die Gesellschaft insgesamt entwickelt. Wird sie offener, gerechter? Oder wird es politische Verschiebungen geben, die zum Beispiel das Leben für Minderheiten weiter erschweren? Deutscher Rap wird so oder so darauf reagieren.