Mit blauem Auge davon gekommen oder Glück gehabt?
Radiomarketer hatten es in den letzten Jahren in aller Regel ziemlich leicht, die Umsätze aus dem Werbevertrieb spätestens im zweiten Halbjahr des laufenden Jahres vorauszusagen: aus den Vorjahresverläufen, bestehenden Jahresabschlüssen mancher Accounts und mit langjährigen Kundenstrategien einzelner Branchen ließen sich die zu erwartenden Erlöse hochrechnen.
In den bewegten und für Vertriebler unsicheren Corona-Zeiten sind solche Projektionen zu erwartender Werbeerlöse von zahlreichen neuen Faktoren bestimmt. Bemerkenswert und erstaunlich ist aber, dass sich Radio mehr als tapfer im Vergleich zu anderen Mediengattungen schlägt. Zog das Geschäft auf Bruttobasis wieder nach drastischen Verlusten in den Monaten März bis Mai laut Nielsen bereits im Juni wieder um 2% an, schrieben sich die Zuwächse im Monat Juli im Vorjahresvergleich mit fast 14% fort. Bisher liegen die Bruttowerbeumsätze laut Nielsen bei für den Zeitraum Januar bis Juli 2020 bei 969 Mio. Euro und um 10% unter dem Vorjahreswert von 1.076 Millionen Euro.
Gründe dieser erfreulichen Entwicklung sind verstärkte Werbeaktivitäten zum Beispiel des Handels, Nachholeffekte aber auch ein Umshiften von Etats in Funk, die bisher in anderen Medien investiert wurden. Auf der Basis von drei Szenarien werden hier verschiedene Umsatz-Möglichkeiten dargestellt für den Rest des Jahres.
„Katastrophen“-Szenario 1 stellt die Entwicklung dar für den Fall, dass ab September die Pandemie einen Lockdown in größeren Teilen Deutschlands auslösen sollte. Szenario 2 „Blaues Auge“ führt mit einem Mittelwert die Entwicklung aus Juni und Juli fort. In einem optimistischen Bild – Szenario 3 „Glück gehabt“ – geprägt mit punktuellen Lockdowns eher auf Stadtviertelebenen oder in kleineren Regionen und bei einer sich rasch positiv entwickelnden gesamtwirtschaftlichen Situation dürfte eine hohe Werbezeiten-Nachfrage auf einen Mangel zur Verfügung stehender Slots stoßen. Auch wenn es eigentlich in den meisten Bundesländern keine offiziell gehandhabten Werbezeitenbegrenzungen bei den Privaten gibt, werden die Sender – um eine Programmverträglichkeit zu gewährleisten – sich selbst Grenzen setzen. Der positiv verlaufende Monat August, die Erfahrungen und die Routine, die in der ersten Phase der Krise im Frühjahr gemacht und gewonnen wurden, stimmen da eher optimistisch.
Die Werbeumsätze in Deutschland speisen sich aus nationalen, regionalen und den wichtigen lokalen Werbetöpfen. Da sich die Gegebenheiten bei den Lokalanbietern teilweise deutlich unterscheiden, liegen die Anteile der nationalen zur lokalen Werbung in einer Spannbreite von 30% zu ca. 60%. Die Erlöse hieraus sind zu den hier dargestellten Zahlen hinzu zu addieren.
Spannend und herausfordernd wird es für das Radiomarketing bei Fragestellungen werden, ob Trends – vorhergesagt von sicherlich nicht ganz uneigennützigen Digitalberatern – eintreffen wie digitaler Wandel für den regionalen Einzelhandel und für die Eventbranche, ein sich änderndes Mobilitätsverhalten der Bevölkerung und neue Verbrauchergewohnheiten hin zu mehr Ökologie. Auf der Programmseite wird sich auch die Frage ergeben, wie ein ganz offensichtlicher Trend nach sozialer Wärme, Sicherheit und Nähe aufgegriffen werden kann.
Der große Radiopresenter Harry von Zell sagte schon in den 40er Jahren „Radio is the most intimate and socially personal medium in the world.“ Es liegt an den Anbietern aus diesem Pfund etwas zu machen gerade in diesen Zeiten, um das Spielfeld nicht ‚social media‘ zu überlassen.
Helmut Poppe gehört zu den Privatradiopionieren in Deutschland und hat früh den Blick über den Tellerrand gewagt. Er war in der RTL-Gruppe (seinerzeit IPA) und bei Studio Gong für Vertrieb und Marketing leitend für den Vertrieb des Werbeinventars verantwortlich und kennt auch das Lokalgeschäft durch seine Vertriebstätigkeit u.a. bei Radio RPR. Schon 1999 war er bei dem Entstehen des Webradios “Radio germany.net” beteiligt. Mit seinem Mediaforschungs- und Marketinghintergrund berät er Agenturen, Start-Ups und Audioanbieter in Fragen der Strategie und Markenbekanntheit.