Sechs Millionen Zuhörer hat Klassik Radio nach Aussage von Programmchef und Morgenmoderator Thomas Ohrner, mehr als die Süddeutsche Zeitung mit einer Million Leser, und das als Special Interest-Angebot. Wie kommt es zu diesem Erfolg? RADIOSZENE konnte dem Sender auf Einladung des Bayerischen Journalistenverbands im 35. Stock des Augsburger Hotelturms unter die Haube schauen.
Kommerzielle Pop- und Rocksender gibt es viele. Aber Klassik? „Die Oper ja, die Oper ja, ist nur noch für den Opa da!“ verkündete die Rentnerband schon 1977. Damit kann man doch nichts verdienen, das olle Zeug kann man samt K(n)öchel-Verzeichnis getrost den E-Musik-Abteilungen der öffentlich-rechtlichen Sender überlassen….?
Doch ob nun Rock me Amadeus oder Roll over Beethoven, die Klassik ist nie aus der populären Musik verschwunden, die sie ja einst auch selbst war. Zudem ist Filmmusik meist moderne Klassik. Doch in den normalen Programmen ist all dies nicht zu finden. Also doch eine Marktlücke?
Thomas Ohrner, der seit Juli 2016 die Morgensendung bei Klassik Radio moderiert und seit September 2018 auch Programmchef ist, hätte Klassik Radio 1989 keine Chance gegeben, als der Sender in Hamburg von Spiegel, Burda und Bertelsmann gegründet wurde. Ulrich R.J. Kubak hatte 1987 in Augsburg Radio Fantasy gegründet und war sehr an Klassik Radio interessiert. Liz Mohn lehnte es lange ab, zu verkaufen, doch schließlich konnte Kubak 1999 überzeugen und die Mehrheit an Klassik Radio von Burda, Spiegel, RTL, Universal, BMG und Christoph Gottschalk übernehmen.
Inzwischen hat Kubak Verwaltung und Studio in den 35. Stock des Augsburger Hotelturms verlegt, in dem er selbst schon 1987 ein Appartment hatte. In diesem Stock war einst ein Restaurant untergebracht, das sich aber wie in vielen Fernmelde- und Fernsehtürmen nicht dauerhaft tragen konnte. So haben nun die Mitarbeiter von Klassik Radio die beste Sicht über die ganze Stadt.
Thomas Ohner schätzt den einzigartigen Sonnenaufgang um 5 Uhr über der Stadt und liebt es, aus dem mit 115 m höchsten dauerhaft genutzten Rundfunkstudio Deutschlands zu senden: „Wenn man dann schon um halb 5 im Studio ist, dann ist das einfach eine tolle Aussicht und man sitzt nicht in einem dunklen Innenraum wie bei vielen anderen Sendern. Deshalb bin ich hier auch sehr gerne vor Ort, auch wenn unser Mischpult dank Digitaltechnik so kompakt und portabel ist, dass ich es auch in den Urlaub nach Ibiza oder Grönland mitnehmen könnte. Früher musste man noch Bänder schneiden, heute geht das mit der Maus und zwei, drei Servern…“
Auch Antenne Frankfurt wird Klassik Radio den Titel des höchsten Rundfunkstudios nicht streitig machen, ihr zukünftiges Studio ist „nur“ 110 m hoch. Allerdings wird Klassik Radio ab 2020 wieder bodenständiger, denn im Hotelturm ist der Platz begrenzt und nun ausgereizt. Um auch die restlichen noch in Hamburg befindlichen Abteilungen unterzubringen und weiter expandieren zu können, steht dann ein Umzug in ein ebenfalls ehrwürdiges Augsburger Gebäude an, das ehemalige Stadtarchiv, das natürlich zunächst einmal mit entsprechender Technik und Innenausstattung aufgerüstet werden muss.
RADIOSZENE sprach mit Thomas Ohrner ausführlich über die Strategie von Klassik Radio.
RADIOSZENE: Was machen Sie denn anders als die öffentlich-rechtlichen Klassik-Sender?
Thomas Ohrner: Wir bedienen nicht nur den Hardcore-Klassik-Hörer, wir spielen schon im Hauptprogramm auch Filmmusik, die ja oft von Klassik inspiriert ist, und New Classics. In unseren Konzerten, übrigens auch ein wichtiges Element der Hörerbindung – Nic Raine und unser eigenes 80-köpfiges Orchester setzen beispielsweise Filmmusik live um – sitzt der Student neben der Oma. Wir wollen die Menschen mitnehmen, da musst du nicht wissen, aus welchem Holz der Taktstock von Karajan geschnitzt ist. Dass die Hymne bei der Champions League auf Händels „Zadok the Priest“ basiert oder wie Beethoven es schaffte, trotz seiner Taubheit seine Kompositionen noch zu hören, das ist dagegen durchaus interessant für unsere Hörer.
RADIOSZENE: Was machen Sie anders als die Popwellen?
Thomas Ohrner: Wir haben 1.700 Titel schon in der Playlist des normalen Programms – Popsender haben 500 bis 600. Wir haben inzwischen 30 bis 40% unserer Hörerschaft online und kennen diese dadurch ganz genau. Wir machen kein Soundprocessing – außer für den Moderator. Unser Programm wird nicht langweilig, auch wenn wir populäre Titel spielen, endet es nicht bei der „Heavy Rotation“ der Popwellen, die auf 20 Minuten Einschaltzeit optimiert ist.
RADIOSZENE: Was hat sich denn bei der heutigen Mediennutzung verändert?
Thomas Ohrner: Alles entwickelt sich weiter. Jeder kann seine Mediennutzung heute mit der vor 5 oder auch 25 Jahren vergleichen und wird große Unterschiede bemerken. Ich bin ein Fernsehkind der 70er, doch auch ich will heute Serien online schauen, wann und wie ich will. Samstagabend baden, dann Frotteeanzug an, Salzstangen raus, ab aufs Sofa und „Wetten dass?“ mit Thomas Gottschalk ansehen – das war einmal. Das letzte TV-Lagerfeuer brennt zwar noch, aber ich möchte nicht der sein, der es auspusten muss.
RADIOSZENE: Was bedeuten diese Veränderungen fürs Radio?
Thomas Ohrner: Das alte Frequenzradio ist Vergangenheit, auch auf UKW. Dass man früher gar die Mittelwelle eingeschaltet hat, um Musik zu hören, ist ohnehin kaum mehr vorstellbar – so wie Schellack-Platten und Trichter-Grammophone.
Neben unserem Liveprogramm, das digital terrestrisch über DAB+, über Astra Satellit europaweit und im Internet weltweit gehört werden kann bieten wir mit Klassik Radio Select über 150 werbefreie, von unseren Musikexperten kuratierte Spartenkanäle an, sozusagen unser eigenes „Spotify“, wo es spezielle Musik für den Weg zur Arbeit oder einen Weihnachts-Stream gibt, der übrigens ganzjährig und besonders im Hochsommer gefragt ist. Auch Podcasts werden in Zukunft eine große Rolle spielen.
RADIOSZENE: 150 Spartenkanäle – gibt es denn so viele Klassik-Varianten?
Thomas Ohrner: Das ist nicht nur die klassische Klassik, die sich unter anderem nach Herkunft, nach Epoche, nach Stimmung, nach Instrument und natürlich nach Komponist auswählen lässt. Neben Jazz-, Lounge- und Filmmusik-Auswahlen – und übrigens auch einem Game-Channel mit Musik aus Computerspielen – gibt es auch Klassik Rock und gezielte Kanäle für die unterschiedlichen Tagesempfindlichkeiten unserer Hörer.
RADIOSZENE: Was reizt Sie mehr – Radio oder Fernsehen?
Thomas Ohrner: Radio ist unmittelbarer, kann es von der Geschwindigkeit der Berichterstattung mit dem Internet aufnehmen und wird dort auch mit Text und Bild unterstützt oder bei Visual Radio auch direkt über den Sendekanal. Demgegenüber tut sich das klassische lineare Fernsehen schwer. Video on demand und Video Podcasts sind deutlich schwieriger zeitnah zu produzieren. Doch solange ich bei solchen Veränderungsprozessen mitwirken kann, wie eben nun hier bei Klassik Radio, bin ich weiter mit vollem Einsatz dabei.