Niklas Gruse: „‚Radio first‘ statt ‚Spotify first‘ wäre die richtige Strategie“

Musicmaster: Immer perfekte Playlists.In Fortsetzung unserer Serie „Music Maker“ wollen wir heute mit Niklas Gruse den Musikchef des niedersächsischen Privatsenders radio ffn vorstellen. Der gebürtige Niedersachse hat sein Handwerk von der Pike auf erlernt und verantwortet zudem die Musikprogramme von ENERGY Bremen sowie der Schlagerwelle RADIO ROLAND. Seit 2005 ist Gruse als Mitglied der Musikredaktion für das reichweitenstarke Hot AC-Format tätig.

Niklas Gruse (Bild: ©radio ffn)
Niklas Gruse (Bild: ©radio ffn)

RADIOSZENE Mitarbeiter Michael Schmich sprach mit Niklas Gruse über das ffn-Musikprogramm sowie aktuelle Entwicklungen im Musikmarkt.

RADIOSZENE: Herr Gruse, Sie blicken ja auf eine schon recht lange Zeit beim Radio zurück. Wie sind Sie zum Hörfunk gekommen?

Niklas Gruse: Ich hatte schon immer Spaß daran, Menschen zu unterhalten. Als DJ bin ich dann, während eines Praktikums beim Radio, der Musikredaktion aufgefallen, da die Kollegen auf der Suche nach einem Volontär waren. Plötzlich hieß es: „Fragt doch mal Niklas, der ist sowieso jede Woche hier und interessiert sich für neue Musik…“

RADIOSZENE: Welche Stationen haben Sie während Ihrer Laufbahn durchwandert?

Niklas Gruse: Kurz: Praktikant in der Morningshow, Volontariat in der Musikredaktion, verantwortlicher Musikredakteur –  das alles bei Hit-Radio Antenne. Anschließend ging ich als Programm- und Musikchef zu SkyRadio Hessen. In die Musikredaktion von radio ffn kam ich im Herbst 2005.

Niklas Gruse mit Fanta 4 Selfie 2018 (Bild: ©radio ffn
Niklas Gruse mit Fanta 4 Selfie 2018 (Bild: ©radio ffn

RADIOSZENE: Welche Tätigkeitsfelder umfasst Ihr heutiges Aufgabengebiet?

Niklas Gruse: Heute bin ich Leiter der Musikredaktion von radio ffn. Gemeinsam mit meinem Team bin ich verantwortlich für die strategische Musikplanung von radio ffn, ENERGY Bremen, RADIO ROLAND und unseren diversen Musikstreams. Darüber hinaus bin ich Ansprechpartner in allen Fragen zur Musik on und off air. Das umfasst sämtliche Kontakte zur Musikindustrie, geht über die Marktforschung bis hin zur korrekten GEMA-Abrechnung.

RADIOSZENE: In Niedersachsen stehen Sie in Konkurrenz mit Antenne Niedersachsen, Radio 21 und einigen lokalen Formaten – aber auch mit den Programmen des Norddeutschen Rundfunks. Wie grenzen Sie sich beim Musikprogramm von den Mitbewerbern ab? 

Niklas Gruse: Unser Ziel ist es, den Musikgeschmack des Kerns unserer Zielgruppe besser zu treffen als die Mitbewerber. Dazu kommt, dass wir ein gutes Gespür für die Wahl der richtigen Neuheiten bei uns im Programm besitzen. Damit gelingt uns ein interessanter und verlässlicher Musikmix.

Niklas Gruse mit den Toten Hosen (Bild: ©radio ffn)
Niklas Gruse mit den Toten Hosen (Bild: ©radio ffn)

RADIOSZENE: Welche Musikgenres werden von den Hörern von radio ffn derzeit besonders favorisiert? Sind hier markante Veränderungen erkennbar?

Niklas Gruse: Ich finde es schwierig, einzelne Musikstile als besonders beliebt hervorzuheben. Hier kommt es auf den Mix an. Veränderungen finden stetig, aber schleichend statt. Mitunter ist es wichtiger zu wissen, welche Musikstile besser gar nicht im Programm auftauchen sollten.

 

„Oft steht sich die Musikindustrie selbst im Weg, wenn sie versucht, zu viele Songs gleichzeitig zu veröffentlichen beziehungsweise wenn sie zu schnell hintereinander die Singles eines Künstlers rausbringt“

 

RADIOSZENE: Einige vergleichbare Programme verzichten bereits ganz auf Titel der 80er und 90er Jahre. Oder haben deren Anteil drastisch reduziert. Welchen Stellenwert haben die Hits aus diesen Dekaden noch in Ihrem Programm?

Niklas Gruse mit Felix Jaehn 2017 (Bild: ©radio ffn)
Niklas Gruse mit Felix Jaehn 2017 (Bild: ©radio ffn)

Niklas Gruse: Die 80er und 90er haben im Programm ihre Berechtigung, da sie bei den Hörern eine sehr hohe Leidenschaft hervorrufen. Das gilt jedoch nur für die Tophits aus den 80ern und 90ern, die sehr dosiert eingesetzt werden. Mit „musikalisch interessanten B-Seiten“ begeistere ich nur einen sehr kleinen Teil der Zielgruppe … 

RADIOSZENE: Die Bedeutung von Musiktests ist bei vielen Sendern elementar. Wie sehr beeinflusst die Musikforschung Ihre Arbeit?

Niklas Gruse: Die Marktforschung ist extrem wichtig für unsere Arbeit. Da Musik der Einschaltfaktor Nummer eins ist, wäre es unverantwortlich, darauf zu verzichten. Ich vergleiche die Marktforschung mit dem Blick eines DJs auf die Tanzfläche. Ist die Tanzfläche voll und sehe ich in begeisterte Gesichter, dann mache ich einen guten Job. 

RADIOSZENE: Welche weiteren Instrumente geben Orientierungshilfe bei Sichtung neuer Trends? Streaming-Charts, Top 100?

Niklas Gruse: Die wichtigste Orientierungshilfe ist ein gutes Gespür bei der Auswahl der Neuheiten. Dazu kommt ein Blick in die Airplaycharts. Shazam, Streaming- und Verkaufscharts sind durchaus interessant, jedoch wenig relevant…

RADIOSZENE: Generell haben sich die Musik und ihre Produktionsformen in den letzten Jahren stark verändert. Auch die Strukturen der Musikfirmen sind andere geworden. Wie sehr hat sich damit auch Ihre Arbeit in der Musikredaktion in den letzten Jahren verändert? Ist sie unter anderem auch durch die kürzere Haltbarkeit der Veröffentlichungen schwieriger geworden?

Niklas Gruse: Die Strukturen der Musikindustrie spielen für uns keine große Rolle. Wir haben sehr gute Kontakte zu unseren Ansprechpartnern in der Musikindustrie und freuen uns täglich über die gute Zusammenarbeit. Oft steht sich die Musikindustrie selbst im Weg, wenn sie versucht, zu viele Songs gleichzeitig zu veröffentlichen beziehungsweise wenn sie zu schnell hintereinander die Singles eines Künstlers rausbringt. Der Platz auf den Playlisten ist nun mal begrenzt.

RADIOSZENE: Wie bewerten Sie das generelle Angebot am Musikmarkt? Zumindest quantitativ, so ist zu hören, soll es noch nie so viel neue Musik wie heute gegeben haben …

Niklas Gruse: Das Angebot an Musik ist in der Tat so groß wie noch nie. Die Verfügbarkeit der Musik ist für den Konsumenten einfacher und günstiger als je zuvor. Genau darin liegt die Chance für kuratierte Musikprogramme. 

RADIOSZENE: Welche Bedeutung haben Newcomer und Neuheiten sowie deutsche Musik im Programm von radio ffn?

Niklas Gruse: Newcomer und Neuheiten sind, in der richtigen Dosis, sehr wichtig für radio ffn. Deutsche Popmusik macht das Programm einerseits nahbarer und kann besser Gefühle transportieren als englische Popmusik, andererseits neigt sie dazu, stark zu polarisieren.

 

„Deutsche Popmusik macht das Programm einerseits nahbarer und kann besser Gefühle transportieren als englische Popmusik, andererseits neigt sie dazu, stark zu polarisieren“

 

RADIOSZENE: Streaming spielt in den Strategien der Musikwirtschaft eine dominierende Rolle. Die digitalen Formate haben heute die CD und Schallplatte als meist genutzte Formate abgelöst. Diverse Songproduktionen sind bereits auf die Vermarktungsabläufe der Streamingdienste angepasst. Bei den Veröffentlichungsterminen neuer Songs heißt es oft: Spotify first! Wie gefällt Ihnen diese Entwicklung?

Niklas Gruse: Die Musikindustrie muss sich die Frage stellen, ob „Spotify first“ eine so gute Idee ist. Die Fans eines Künstlers hören die Neuvorstellungen sowieso on demand. Eine Weltpremiere im Radio wird dadurch für die Fans und für die Radiomacher unwichtiger und findet nicht statt. Die richtige Strategie wäre, mit „Radio first“ den Einsatz von Premieren im Radio für Radiomacher interessanter zu machen und so echte Einschaltimpulse durch Exklusivität zu bieten. Die Musikindustrie würde neue Zielgruppen erreichen und darüber hinaus: Mit zwei bis drei Plays erzielen wir bei radio ffn mehr als eine Million Kontakte. Das schafft kein Streamingdienst in so kurzer Zeit …

RADIOSZENE: Wie wichtig sind musikredaktionelle Inhalte im Programm von radio ffn?

Niklas Gruse mit Marius Müller-Westernhagen 2014 (Bild: ©radio ffn)
Niklas Gruse mit Marius Müller-Westernhagen 2014 (Bild: ©radio ffn)

Niklas Gruse: Musikredaktionelle Inhalte im Radio sind dann wichtig, wenn sie für den Hörer relevant sind. Wenn wir wöchentlich on air über die Platzierungen in den Verkaufscharts philosophieren, senden wir am Hörer vorbei. Wöchentlich eine gut gemachte Hörerchartsendung mit prominenten Gästen im Programm zu haben, bringt dem Hörer dagegen in konzentrierter Form die aktuelle Lieblingsmusik und hilft dem Musikimage des Senders.

RADIOSZENE: radio ffn hat noch vergleichsweise wenige Spartenstreams im Internet platziert. Manche Sender verfügen hier über 30 Angebote. Werden Sie diesen Bereich ebenfalls weiter ausbauen?

Niklas Gruse: Die Quantität der Streams sollte nicht das Ziel sein, sondern die Qualität. Gibt es eine Zielgruppe für diesen Stream? Lieber weniger, aber gut gemachte Streams, mit denen ich Hörer erreiche als eine unübersichtliche Vielfalt an Streams, die der Hörer nicht braucht. Fazit: Der Ausbau der Streams bei ffn ist bei Bedarf möglich …

 

„Mit zwei bis drei Plays erzielen wir bei radio ffn mehr als eine Million Kontakte. Das schafft kein Streamingdienst in so kurzer Zeit“

 

RADIOSZENE: Wie haben sich aus Ihrer Sicht die Radio- und Musiklandschaft über die Jahre verändert?

Niklas Gruse: Die Radio- und Musiklandschaft ist im stetigen Wandel. Die Qualität der meisten Radioprogramme hat sich stark verbessert. Der Wettbewerb nimmt zu und am Ende gewinnt das bessere Produkt. Was sich nicht verändert hat und auch nicht verändern wird, sind die Menschen, die sagen: „Früher war alles besser!“ 

RADIOSZENE: Welchen besonderen Herausforderungen muss sich radio ffn und die Branche allgemein in der Zukunft primär stellen?

Niklas Gruse: Die große Herausforderung liegt darin, trotz diversifizierter Verbreitungswege (UKW, DAB+, online/Plattformen) in den Köpfen der Menschen zu bleiben und sie davon zu überzeugen, ihr Tagesbegleiter sein zu dürfen.