Dance im Radio, das war über eine sehr lange Zeit eine schwierige Beziehung. Bereits zu den Anfängen in den 1970er Jahren bekamen die Programmverantwortlichen Zustände, wenn Disco Sounds auf den Playlisten auftauchten – damals wollte man Pop, Rock, Singer Songwriter und konnte „diesem weichgespülten Gedudel und Gehopse“ (O-Ton eines damaligen ARD-Musikchefs) wenig abgewinnen. Auch in den 80ern und 90ern tat man sich schwer, selbst die seinerzeit kommerziell sehr erfolgreichen Hits der Marke „Euro Dance“ von Snap! oder Dr. Alban, in die Playlisten aufzunehmen (außer z.B. bei Hit Radio N1 in Nürnberg). Auch ein Grund, warum die damalige Beimischung von Airplay in die Single-Verkaufs-Charts Top 100 wieder aufgegeben wurde. Zu lautstark hatten sich die auf Dance fokussierten Labels und Produzenten darüber beschwert, dass durch die „unbefriedigende Lage im Hörfunk“ für sie ein vermeintlicher Nachteil bei der Chart-Auswertung entstehe.
Mit der seit einigen Jahren in Mode gekommenen Verschmelzung verschiedener Genres in einer Musikproduktion haben sich auch die Radiowellen Stück für Stück für Tanzbares geöffnet. Am Hitmarkt ist heute offenbar alles im Fluss – starre stilistische Grenzen sind aufgelöst, Fusion ist angesagt. Mit Facetten wie „Tropical House“ oder „EDM“ finden sich heute in den Programmen reichlich Songs, die im weitesten Sinne von den Labels zwar immer noch als „Dance“ etikettiert werden – in Wahrheit aber eher (bestenfalls) als „Rhythm Pop“ oder „Pop“ klingen. Eine eingängige Hookline in den gefälligen PopSong eingearbeitet, dazwischen mischt der allseits bekannte (und als Interpret deklarierte) DJ einige unaufdringliche Dance-Anmutungen, die unvermeintlich (mehr oder weniger) bekannte „Featuring-Stimme“ – fertig ist neue PopDance-Chartbreaker. Und dennoch: dieser Trend punktet bereits schon einigen Jahren in den Bestenlisten (beziehungsweise wohl auch bei den Musiktests der Sender) – und scheint noch lange nicht am Ende.
Alles gut im Tanzland? Offenbar nicht ganz. Zwar freut sich Branche über gestiegene Marktanteils-, Absatz-, Streaming- und (seit einigen Jahren sogar) Airplay-Ergebnisse, dafür zeichnen sich aber gravierende Veränderungen innerhalb der der Discothekenszene ab. „Getanzt wird zwar immer“, sagt Marktbeobachter und Dance-Chart-Ermittler Arne Heitmann von der Firma Pool Position, „der Wandel innerhalb der Discotheken-Struktur ist aber dramatisch“. Was primär am veränderten Publikumszuspruch und Ausgehverhalten liegt. Allerdings auch an anderen Gründen: die Betreiber (gerade) von großräumigen Discotheken überlegen vor dem Hintergrund stark gestiegener Kosten für Miete, Versicherungen, erhöhte Sicherheitsvorkehrungen, Mindestlohn sowie wegen stärkerer Gewaltbereitschaft unter den Gästen oder Vandalismus, mehr und mehr wie ein rentabler Betrieb noch erreichbar ist. Viele Inhaber dieser Lokalitäten haben inzwischen das Handtuch geworfen.
In Gespräch mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich beleuchtet Arne Heitmann die derzeitige Situation innerhalb der deutschen Discothekenszene.
RADIOSZENE: Die Discotheken in Deutschland ist im Wandel. Was verändert sich gerade?
Arne Heitmann: Die Veränderungen dauern ja nun mittlerweile ein paar Jahre an. Die klassische Großraumdiscothek der 90er und 2000er Jahre ist ausgestorben und viele Betreiber mussten die Reißleine ziehen und sogar komplett schließen. Die Discotheken sind heute deutlich kleiner geworden und breiter aufgestellt. Viele Discotheken bieten mittlerweile an, Teile der Räumlichkeiten für Firmen- oder Privatfeiern zu vermieten. Ohne Social Media Marketing geht natürlich auch hier gar nichts. Facebook, Instagram & Co. haben das klassische Marketing über Flyer, Zeitungsanzeigen oder Radiowerbung fast komplett abgelöst. Ohne spezielle Events bekommt man eine Discothek heutzutage nur noch schwer gefüllt. Musikalisch bestimmt das Publikum deutlich mehr, was gespielt wird.
„Discotheken sind heute deutlich kleiner geworden und breiter aufgestellt. Viele Discotheken bieten mittlerweile an, Teile der Räumlichkeiten für Firmen- oder Privatfeiern zu vermieten“
RADIOSZENE: Welches sind die Gründe für diese massiven Einschnitte?
Arne Heitmann: Hier kann man die klassischen Antworten geben. Geburtenschwache Jahrgänge und ein verändertes Ausgehverhalten bedingt durch ein größeres Freizeitangebot sind sicherlich als Hauptgründe zu nennen.
RADIOSZENE: Hat diese Entwicklung auch Auswirkungen auf die Musik in Discotheken?
Arne Heitmann: Die genannten Veränderungen sind sicher nicht dafür verantwortlich. Musik verändert sich ja eh ständig. Getanzt wird immer und der Zeitgeist bestimmt, wozu das getan wird.
RADIOSZENE: Welche Facetten von Dance werden derzeit besonders aufgelegt?
Arne Heitmann: Eigentlich ist das einfach beantwortet: „Aufgelegt wird alles, was gut ist“. Auch den alten Spruch „Ein Hit ist einfach ein Hit“ kann man sicher aus der Schublade holen. Ich glaube das Genre spielt dabei tatsächlich keine allzu große Rolle. Man könnte hier sicher Future House, Tropical House, Trap und auch andere Genres nennen, aber für mich ist es am Ende alles Dancemusic und wenn der Song nicht gut ist, wird ihn keiner spielen. Viele DJs sind durch die heutigen technischen Möglichkeiten aber auch in der Lage, sich von jedem Titel einen eigenen Remix zu machen, der dann perfekt zu dem persönlichen Set beziehungsweise Sound des DJs passt.
Auffällig ist sicher, dass viele DJs sich trotz der Chartserfolge nicht an Deutschen HipHop heranwagen. Das geschieht oft auch auf Ansage des Betreibers, da dieses Genre Publikum anzieht, dass vorrangig nicht gewünscht ist. DJs, die musikalisch komplett freie Hand haben, haben aber tatsächlich meistens volle Tanzflächen, wenn Deutscher HipHop gespielt wird.
RADIOSZENE: Haben Schlager/Discofox- und Rockdiscotheken noch einen hohen Stellenwert? Schlager ist ja offenbar weiter sehr angesagt…
Arne Heitmann: Ja, das Genre Schlager hat in den Discotheken wirklich eine bemerkenswerte Entwicklung genommen, dem auch wir in unserer DJ Promotion Rechnung tragen. Wir bemustern mittlerweile sehr viele Schlager-DJs und erheben seit 2016 zusätzlich zu unserer seit 1996 existierenden Dancechart DEUTSCHE-DJ-PLAYLIST auch die DEUTSCHE-DJ-PLAYLIST-Schlager.
Schlager ist auch 2019 salonfähig und schon lange nicht mehr verpönt. Dabei ist es aber nicht so, dass auf einem Main-Floor zwei Stunden am Abend Schlager gespielt wird. Einzelne Remixe von besonders erfolgreichen Schlagertiteln kommen da natürlich zum Einsatz, aber Schlager findet eher auf separaten Tanzflächen, Mottopartys und in speziell auf Schlager ausgerichteten Discotheken statt. Spezielle Rockdiscotheken gibt es hingegen nur ganz wenige.
RADIOSZENE: Über welche Quellen wird in Discotheken bevorzugt aufgelegt? Spielt Vinyl hier noch eine Rolle?
Arne Heitmann: Nein, Vinyl im klassischen Sinn spielt überhaupt keine Rolle mehr bei den DJs. Die einzige Ausnahme ist der Einsatz von sogenannten Timecode-Vinyls, mit denen das digitale System auf dem Laptop angesteuert ist. Der DJ im Jahr 2019 legt fast ausschließlich digital auf. Das bringt viele Vorteile mit sich. Man muss keine Platten und CDs mehr schleppen und verfügt über ein riesiges Musikarchiv, auf das man jederzeit zugreifen kann. Die Soft- und Hardware in den Discotheken ist darauf komplett eingestellt. Ein gut vorbereiteter DJ braucht, wenn er will, zum Auflegen heutzutage nur einen USB Stick, den er in den Controller in der Disco steckt.
„Auffällig ist sicher, dass viele DJs sich trotz der Chartserfolge nicht an Deutschen HipHop heranwagen. Das geschieht oft auch auf Ansage des Betreibers, da dieses Genre Publikum anzieht, dass vorrangig nicht gewünscht ist“
RADIOSZENE: Für den Tonträgermarkt sowie die Charts spielten früher Discotheken als Impulsgeber eine große Rolle. Wie verhält sich dies heute in Zeiten von Streaming?
Arne Heitmann: Der Impuls kann immer noch von Discotheken ausgehen. Es hat sich aber auch hier sehr viel verändert. Titel werden heute sehr oft erst mit dem Datum der Streaming-Veröffentlichung in die DJ Promotion gegeben. Vorlaufzeiten von sechs bis acht Wochen gibt es eigentlich nicht mehr, denn es ist alles noch schnelllebiger geworden. Ein Titel hat kaum Zeit, sich in den Discotheken zu entwickeln. Es wird oft erwartet, dass ein Titel auf Knopfdruck funktionieren soll. Genau das ist aber in speziell kommerziell ausgelegten Discotheken sehr schwierig, denn ein neuer Titel kann einem DJ beim ersten Einsatz auch schon mal die Tanzfläche räumen. Der Impuls, der für neue Titel aus der DJ Promotion resultiert, kommt also mit Ausnahme von Dancecharts-Platzierungen nicht sofort, sondern braucht immer noch eine gewisse Anlaufzeit. Ausnahmen sind hierbei sicherlich Produktionen von etablierten Künstlern, die auch bei den DJs eine erhöhte Aufmerksamkeit genießen. Speziell diese Titel werden aber oft gar nicht mehr an die DJs bemustert, da der Erfolg der DJ Promotion nicht so gut messbar ist, wie eine Marketingmaßnahme im Social Media Bereich.
RADIOSZENE: Wie kommerziell erfolgreich sind Dance Produktionen? Es ist doch ein sehr Track-orientiertes Geschäft, bei dem Alben keine große Bedeutung haben?
Arne Heitmann: Ich finde Dance Produktionen sind sehr erfolgreich, was man ja alleine schon an Dynoro & Gigi D’Agostino‘s „In My Mind“ als Hit des Jahres 2018 ablesen kann. Dance wird immer ein Track-orientiertes Geschäft bleiben, bei dem sich jeder A&R aber immer wünschen wird, dass es nicht so ist und man vielleicht doch viele Alben eines Künstlers verkaufen kann. Ausnahmen bestätigen auch hier sicher die Regel, denn zu Einnahmen aus den Album-Verkäufen von David Guetta oder Robin Schulz würde ich nicht Nein sagen. Das eigentliche Album von Dancetracks war jahrzehntelang die Compilation. Wenn man sich die aktuellen Verkaufszahlen von Compilations anschaut, scheint deren Zeit mit dem Streaming leider vorbei zu sein. Ich bin sehr gespannt, ob sich mit den existierenden Marken auch erfolgreiche Playlisten etablieren werden.
RADIOSZENE: Spielen Liveauftritte von Künstlern und DJs noch eine große Rolle?
Arne Heitmann: Aktuell erfolgreiche Künstler füllen auch heutzutage immer noch eine Discothek. Aber ein DJ, der vor fünf Jahren mal einen Hit hatte, lockt niemanden mehr hinter dem Ofen vor. Klingt hart, entspricht aber leider der Realität. DIE Live-Erlebnisse im Dance sind Festivals wie „TomorrowLand“, „Airbeat One“ usw. Ich glaube, das ist noch viel Platz für weitere Veranstaltungen.
RADIOSZENE: Seit 1996 veröffentlichen Sie jede Woche die „Deutsche-DJ-Playlist“. Wer nutzt diese Bestenliste, wie wird sie ermittelt und wie viele DJs beteiligen sich daran?
Arne Heitmann: An der DDP und DDP-Schlager darf sich grundsätzlich jeder DJ beteiligen, der den Nachweis erbringt, regelmäßig vor Publikum aufzulegen. Voraussetzung ist die Mitgliedschaft eines DJs im DJ-Pool von POOL POSITION. Für die DDP sind zurzeit 350 DJs tippberechtigt, für die DDP-Schlager sind es 150 DJs.
Der Tipp des DJs beinhaltet 20 Plätze in der Reihenfolge von 1 bis 20. In der Auswertung erhält Platz 1 zwanzig Punkte, Platz 2 erhält neunzehn Punkte bis zu Platz 20, der einen Punkt erhält. Die weiteren Erhebungskriterien sind über ein genau festgelegtes Regelwerk festgelegt.
Die Auswertung der laufenden Tipps werden für die DDP und die DDP-Schlager über den Memberbereich der Homepage www.poolposition.com als Trendcharts ausgewiesen. Die Trendcharts verfügen über 150 Plätze. Die Ansicht der Trendcharts ist kostenlos. Die Zugangsdaten können über die Emailadresse info@poolposition.com bestellt werden. Die ausgewertete, fertige DDP und DDP-Schlager verschicken wir jeden Freitag 12.00 Uhr (DDP) und 13.00 Uhr (DDP-Schlager) kostenlos per Email an alle Interessierten der Musikbranche. Ab Montag 12.00 Uhr wird die komplette DDP und DDP-Schlager auf der Homepage www.deutsche-dj-playlist.de veröffentlicht.
Soweit vorhanden verfügen dort alle in der DDP und DDP-Schlager platzierten Titel über eine Einbindung eines Videos sowie über Verknüpfungen zu Facebook, Amazon, iTunes und Spotify.
Wir verzeichnen über unsere Homepage täglich 1.500 Zugriffe auf die verknüpften Videos. Natürlich sind wir auch bei Facebook vertreten und freuen uns dort über ständig wachsende 13.000 Likes für die DDP und 5.500 Likes für die DDP-Schlager. Unserer Spotify-Playlist „DDP official“ und „DDP-Schlager official“ folgen ebenfalls ständig wachsende 7.250 (DDP) bzw. 1.450 User (DDP-Schlager) Follower. Auch eine DDP App, die seit ihrer Veröffentlichung im Jahr 2011 bereits 14.600 Mal installiert wurde, ist für alle Smartphone-User erhältlich (alle Zahlen Stand Januar 2019).
„Ein gut vorbereiteter DJ braucht, wenn er will, zum Auflegen heutzutage nur einen USB Stick, den er in den Controller in der Disco steckt“
RADIOSZENE: Die Dance Music hat sich in den letzten Jahren stilistisch verändert. Bei Tropical House ist die Grenze zu Pop mitunter sehr fließend. Wo endet für Sie Pop und wo beginnt Dance? Und wer entscheidet, welche Stücke in Ihre Charts aufgenommen werden?
Arne Heitmann: Ich habe vorher ja schon geantwortet, dass ich kein Freund davon bin, scharfe Grenzen zwischen den einzelnen Musikgenres zu ziehen. Für die DDP darf jede Art von Musikrichtung getippt werden, denn die DDP ist für alle Musikrichtungen geöffnet. Dadurch soll ein realistisches Bild der Reichweiten aktueller Tracks abgebildet werden – ohne Rücksicht auf deren musikalischen Stil. So werden Titel unabhängig vom Genre im direkten Vergleich ihrer Relevanz dargestellt. Für die DDP-Schlager dürfen alle Titel getippt werden, die im weitesten Sinn dem Musikgenre Schlager zugeordnet werden können. Entscheidend ist am Ende immer das, was die DJs wirklich tippen.
RADIOSZENE: Kooperieren bei der DDP auch mit Radiosendern?
Arne Heitmann: Radio FANTASY Dance FM 96.7 präsentiert jeden Donnerstag um 17.00 Uhr die DEUTSCHE-DJ-PLAYLIST in der Sendung „DDP on Air“. Die redaktionelle Verantwortung liegt bei Radio FANTASY.
Die DEUTSCHE-DJ-PLAYLIST-Schlager hat eine Sendung auf Ballermann Radio jeden Dienstag zwischen 18.00 und 20.00 Uhr und Sonntag von 14.00 bis 16.00 Uhr wiederholt wird. Diese Sendung wird von uns vorproduziert.
RADIOSZENE: In welche Richtung wird sich die Discotheken-Landschaft mittelfristig verändern?
Arne Heitmann: Beim Blick in meine persönliche Glaskugel, sagt sie mir folgendes: Es werden leider noch weitere Discotheken schließen. Ich glaube, dass sich regional eine oder wenige Discotheken behaupten werden. Am Ende könnte es heißen: „The Winner Takes It All“. Die Betreiber mit dem längsten Atem, dem bestem Konzept und dem besten Marketing werden sich durchsetzen. Eins ist auf jeden Fall sicher: Getanzt und gefeiert wird weiterhin und das ist auch gut so.
Michael Schmich