Kai Tölke: Mein Antrieb ist, so viel wie möglich an Musik kennenzulernen

Heimliche Helden des Radios by MusicMasterIm Rahmen unserer Serie „Heimliche Helden des Radios“ möchten wir heute mit Kai Tölke den CvD Musik der norddeutschen Infotainmentwelle Bremen Vier vorstellen. „Ich sag Bremen – du sagst Vier“ – unter diesem Motto startete am 1. Dezember 1986 das seinerzeit sehr anders klingende Angebot von Radio Bremen. Im Grunde genommen war Bremen Vier somit das erste deutsche Jugendradio – lange Zeit vor 1Live und Fritz. Als erstes Lied wurde „Pop Muzik“ von M gespielt, der erste Moderator war Jürgen Büsselberg. Im Dezember 2007 zog der Sender in ein neues Funkhaus um. Der letzte gespielte Titel war erneut „Pop Muzik“, der letzte Moderator Axel P. Sommerfeld. Seitdem sendet auch Bremen Vier aus dem Radio-Bremen-Funkhaus im Bremer Stephaniviertel. Die erste Morgensendung war seit April 1989 „Slip“, in den Jahren zuvor wurde bis 9.00 Uhr das Programm der hauseigenen Hansawelle übernommen.

bremen vier smallHeute gibt sich Bremen Vier „Event-orientiert und interaktiv für die jungen und junggebliebenen HörerInnen.“ Die Schwerpunkte liegen „auf einer Musikauswahl mit den besten Hits der letzten 20 Jahre mit aktuellen News, Infos, Service und Programmaktionen. Mit viel Comedy, frech, frisch, lebensfroh, informativ, aktuell, kritisch und querdenkend, echt und authentisch.“ 

Weitere Programm-Highlights sind die Musikspecials am Abend mit Sendungen wie „Axel P.“, „Zeiglers wunderbare Welt des Pop“, „Heuck Zeug“ oder „Rockt“ – allesamt Beispiele für kompetent gemachtes öffentlich-rechtliches Popfeuilleton weit entfernt von den Mainstream-Trampelpfaden vieler anderer Sendungen.

Bremen Vier-Moderationspult (Bild: ©Radio Bremen / Frank Pusch)
Bremen Vier-Moderationspult (Bild: ©Radio Bremen / Frank Pusch)

Mit der Einführung der Radio Bremen Jugendwelle Bremen NEXT im August 2016 wendete sich Bremen Vier bei seiner Ansprachen verstärkt den jungen und junggebliebenen Erwachsenen in der Region zu. Vom Jugendprogramm zum Radio für junge Familien, Arbeiter und Angestellte – inzwischen ist Bremen Vier erwachsen geworden.  


Im Interview mit RADIOSZENE Mitarbeiter Michael Schmich spricht Musikchef Kai Tölke über seine lange Zeit beim Sender und die Musikinhalte bei Bremen Vier.

RADIOSZENE: Herr Tölke, wie sind Sie zum Radio gekommen?

Kai Tölke (Bild: ©Radio Bremen / Thorsten Springer)
Kai Tölke (Bild: ©Radio Bremen / Thorsten Springer)

Kai Tölke: Als Bremen Vier 1986 gegründet wurde, waren die Erfinder und Macher auf der Suche nach Menschen, die in der Bremer Szene verankert waren und sich mit Musik beschäftigt haben. Ich habe zu der Zeit in einem Szeneplattenladen gearbeitet und als DJ in einem damals sehr angesagten Club aufgelegt. Wolfgang Hagen, sozusagen der Gründungsvater von Bremen Vier, war zu dieser Zeit Stammgast in diesem Club und hat mich praktisch beim Bier am Tresen verpflichtet. Für mich war das natürlich totales Neuland und auf meinen Einwand, dass ich ja nun überhaupt keine Ahnung vom Radiomachen habe, hat er gemeint, das würde ich schon lernen. Und was soll ich sagen: Recht hatte er.

In den ersten Jahren von Bremen Vier habe ich Musikstrecken am Vormittag und, als Vertretung von Wolfgang, seine legendäre Black Music-Sendung „Dr. Nox“ moderiert. Später dann folgte ein Ausflug in die Wortredaktion als Redakteur für die Morning Show, parallel dazu begann ich als Aushilfe in der Musikredaktion. Und als Wolfgang seine Sendung aus zeitlichen Gründen nicht mehr moderieren konnte, habe ich sie übernommen und bis Ende 1998 wöchentlich alles abgefeuert, was Neues an Clubmusik erschien. Hip Hop, House, Techno, Drum N Bass. Ab Mitte der 90er Jahre habe ich dann redaktionell nur noch in der Musikredaktion gearbeitet. 

RADIOSZENE: Welche Tätigkeitsfelder umfasst Ihr Aufgabengebiet?

Kai Tölke: Das sind auf der einen Seite natürlich die klassischen Aufgaben eines Musikredakteurs. Das Erstellen der Sendeuhren und des Regelwerks in unserem Musikplanungssystem, das Planen des Musikprogramms, die Vorbereitung unserer wöchentlichen Abhörsitzung, die Auswahl der Titel, die Vorbereitung und Auswertung unseres Musikresearchs, das Planen von musikalischen Off Air-Aktionen, Musikspezialtagen, Musikthemen und Interviews mit Künstlern und der musikspezifischen Onlineangebote, die Zusammenarbeit mit unserer Wortredaktion, den Producern und den Sendesupports, der Kontakt zur Musikindustrie. Auf der anderen Seite gibt es dazu noch die Führungsaufgaben als Musikchef. Das alles funktioniert hier bei uns durch ein sehr gutes Teamwork in der Musikredaktion, in der jeder Kollege seine speziellen Fähigkeiten einbringt. An dieser Stelle mal die klassische Frage eines Hörers an den Moderator: Kann ich noch jemanden grüßen? Ja! Dann möchte ich auf diesem Wege meine Redaktion grüßen. Hallo Heike, Nina, Maik und Peter!

 

„Neben den formatierten Tagesstunden sehen wir uns aber auch in der Position des Musikliebhabers, der immer auf der Suche nach neuer und ungewöhnlicher Musik ist“

 

RADIOSZENE: An wen wendet sich das Musikprogramm von Bremen Vier und wie definieren Sie Ihr Musikkonzept?

Kai Tölke: Unsere Zielgruppe sind die 25- bis 49-Jährigen, aus welcher Bevölkerungsschicht auch immer. Da würde ich keine Grenzen ziehen wollen. Natürlich spielen Familien in dieser Altersgruppe eine große Rolle, wir schauen aber auch auf die Bedürfnisse anderer Lebensmodelle.

Im Tagesprogramm von Bremen Vier spielt Musik die zentrale Rolle eines verlässlichen Begleiters. Wir bieten unseren Hörerinnen und Hörern in jeder Stunde im Tagesprogramm einen Mix aus bekannten und aktuellen Songs. Neben den formatierten Tagesstunden sehen wir uns aber auch in der Position des Musikliebhabers, der immer auf der Suche nach neuer und ungewöhnlicher Musik ist. Deshalb finden im Abendprogramm größtenteils Autorensendungen statt, die unterschiedlichste Musikrichtungen und Stile intensiver abbilden.

RADIOSZENE: Gibt es Musikgenres, die bei den Hörern von Bremen Vier derzeit besonders angesagt sind?

Kai Tölke: Hauptsächlich der aktuelle Pop und Pop Rock, ganz weit vorne auch der aktuelle Deutsche Pop a la Giesinger, Forster etc. Die 90er und 2000er sind für unsere Hörerinnen und Hörer auch nicht ganz unwichtig, auch da im wesentlichen Pop und Pop Rock. 

RADIOSZENE: Einige mit Bremen Vier vergleichbare Programme verzichten bereits ganz auf Titel der 80er und 90er Jahre. Oder haben deren Anteil drastisch reduziert. Welchen Stellenwert haben die Hits aus diesen Dekaden noch im Programm?

Kai Tölke: Die 80er sind für unsere Hörerinnen und Hörer bis auf ganz wenige Ausnahmen eher nicht so relevant. Bei den 90ern ist es schon deutlich anders, die emotionale Bindung ist einfach größer. Viele unserer Hörerinnen und Hörer haben ihre Jugend in den 90ern gelebt und hören deshalb gerne mal wieder Songs aus der Zeit. Wenn wir einen kompletten 90er Tag im Programm haben, werden wir von unseren Hörerinnen und Hörern mit Anrufen, Mails oder WhatsApp-Nachrichten überrollt. Da kommen sogar, wie in den 90ern üblich, jede Menge Faxe. Das ist eine im positiven Sinne überwältigende Resonanz.

RADIOSZENE: Wer sind die härtesten Mitbewerber im Markt und wie grenzen Sie sich vom hauseigenen Jugendangebot Bremen NEXT ab?

Kai Tölke: In unserem relativ überschaubaren Sendegebiet tummeln sich ja einige Mitbewerber – NDR 2 und FFN oder Radio 21. Dazu Radio Teddy und in unserem unteren Alterssegment auch Energy Bremen.

Die Abgrenzung zu Bremen NEXT ist überhaupt kein Problem. Uns unterscheidet neben der Form der Moderation und Ansprache die Musik. Deren Zielgruppe ist wesentlich jünger als unsere und die Musikauswahl von daher eine ganz andere. Es gibt natürlich hin und wieder Überschneidungen, das sind aber eher Ausnahmen. Wir tauschen wir uns übrigens regelmäßig mit Matthias Zähler, dem Musikchef von Bremen NEXT, aus. Er kennt Bremen Vier aus seiner langjährigen Arbeit bei uns sehr genau und die Wege sind ja kurz. 

Die Bremen Vier-Morgenshow (Bild: Radio Bremen / Michael Ihle)
Die Bremen Vier-Morgenshow (Bild: Radio Bremen / Michael Ihle)

RADIOSZENE: Die Bedeutung von Musiktests ist bei vielen Sendern enorm. Wie sehr beeinflusst die Musikforschung Ihre Arbeit?

Kai Tölke: Musikforschung ist für uns ein wichtiges und hilfreiches Instrument in der täglichen Arbeit, sie gibt uns gute Hinweise und zeigt Momentaufnahmen. Allerdings sind die Auswertungen für uns keine Gesetzestexte, wir interpretieren sie und lassen im Zweifelsfall auch mal den Bauch entscheiden.

RADIOSZENE: Welche weiteren Instrumente geben Orientierungshilfe bei Sichtung neuer Trends? Streaming-Charts, Top 100? Oder …?

Kai Tölke: Die TOP 100 ist für uns schon seit geraumer Zeit kein Gradmesser mehr für das Programm. Wir schauen natürlich jede Woche genauso darauf wie auch auf die Streaming Charts. Aber wir sind ja in der glücklichen Position, nicht mehr irgendwelche Trends zu entdecken und für uns nutzen zu müssen. Unsere Hörerinnen und Hörer laufen der Musik nicht mehr hinterher, sondern möchten musikalisch begleitet werden. Das geht am besten mit einer Musikmischung von bekannten und neuen Songs, die soundmäßig ins Format passen. 

 

„Unsere Hörerinnen und Hörer laufen der Musik nicht mehr hinterher, sondern möchten musikalisch begleitet werden“

 

RADIOSZENE: Generell haben sich die Musik und ihre Produktionsformen in den letzten Jahren doch verändert. Die Zahl der No-Names, die durch Castingshows oder YouTube in die Charts gespült werden, hat sich stark erhöht. In den Single-Charts befinden sich zeitweise bis zu 50% an Rap/HipHop Songs, dazu viele Hits aus dem Dance-Segment. Also Genres, die nicht immer unbedingt die Mehrzahl der Radiohörer ansprechen. Ist die Musikgestaltung im Radio heute schwieriger geworden?

Kai Tölke: Nein, finde ich nicht. Das Interesse an Musik sollte doch für jeden Musikredakteur unverändert groß bleiben. Wenn ich eine Abhörsitzung vorbereite, höre ich mir alles Mögliche an neuen Songs an, egal aus welchem Genre. Selbst wenn ich vorher weiß oder glaube, das ist nix für Bremen Vier. Mein Antrieb ist, so viel wie möglich an Musik kennenzulernen. Und wenn ich mir dazu noch darüber im Klaren bin, welche Musik meine Hörerinnen und Hörer gerne hören möchten, kann ich dieses Wissen ja relativ einfach nutzen und umsetzen.

RADIOSZENE: Streaming spielt in den Strategien der Musikwirtschaft eine dominierende Rolle. Die digitalen Formate haben heute die CD und Schallplatte als meist genutzte Formate abgelöst. Diverse Songproduktionen sind bereits auf die Vermarktungsabläufe der Streamingdienste angepasst. Bei den Veröffentlichungsterminen neuer Songs heißt es oft: Spotify first! Wie schmeckt Ihnen diese Entwicklung, ist Radio hier nicht bereits sehr im Hintertreffen?

Kai Tölke: Natürlich finde ich es nicht toll, wenn Spotify den neuen Song eines Künstlers, den meine Hörerinnen und Hörer auch mögen, vor uns zu Gehör bringen kann. Da gab es schon den einen oder anderen bitteren Moment. Mittlerweile habe ich aber das Gefühl, dass die Entwicklung langsam einer Gleichgewichtung entgegen geht. Die Industrie hat die neuen Möglichkeiten logischerweise für sich genutzt, dabei aber das Radio nie außer Acht gelassen. Und wenn ich Aussagen der Label-Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, richtig deute, ist man sich der Macht und der Möglichkeiten des Radios schon noch sehr bewusst.

RADIOSZENE: Welche Bedeutung haben Newcomer und Neuheiten im Programm von Bremen Vier?

Kai Tölke: Newcomer und Neuheiten sind für uns sicherlich nicht mehr so wichtig wie für die jungen Wellen. Wir freuen wir uns aber immer riesig, wenn es Neuheiten oder Songs von neuen Künstlern gibt, die wir problemlos bei uns spielen können. Weil sie in unseren Sound passen oder eben einfach so gut sind, dass wir nicht dran vorbei schauen wollen. Es landen ja immer mal wieder Künstler im Mainstream, die man beim ersten Hören da nicht ansiedeln würde. Beispiele gibt es genug. Dazu braucht es ein feines Näschen, Bauchgefühl und ab und an auch mal etwas Mut.

RADIOSZENE: Bremen Vier sendet am Abend werktäglich Sendungen, in denen Musik gespielt wird, die man mehrheitlich eher jenseits des Mainstream ansiedeln würde. Moderiert von wirklichen Spezialisten. Wie bedeutend sind diese Shows für das Gesamtprogramm, wie intensiv werden sie genutzt?

Kai Tölke: Ich finde diese Shows vor allen Dingen wichtig, um zu zeigen: Da bei Bremen Vier gibt es Menschen, die sich ganz doll auch mit Musik beschäftigen, die im Tagesprogramm nicht gespielt wird. Und dazu eben echte Spezialisten in ihrem Bereich sind. Das ist ein Imagewert, den man mit Zahlen zur Hörernutzung oder Vermutungen zur Wichtigkeit für das Gesamtprogramm nicht belegen oder messen sollte.

Die Unsicherheit, ob das Hörerinnen und Hörer zum Ab- oder Umschalten bewegt, weil sie zum Beispiel. Rockmusik oder Brit Pop eben nicht so geil finden, muss man ertragen können. Ich habe zumindest bisher nicht den Eindruck, dass uns das Hörerinnen und Hörer kostet. Eher, dass es gesprächswertig ist.

RADIOSZENE: Wie wichtig sind musikredaktionelle Inhalte generell für Bremen Vier?

Kai Tölke: Grundsätzlich sehr wichtig. Unsere Hörerinnen und Hörer interessiert es natürlich, welche Bands in ihrer Region auftreten, ob es neue Songs oder Alben von ihren Lieblingskünstlern gibt, oder, wie oben schon erwähnt, neue Künstler für sie zu entdecken sind. Oder auch, ob für ein Ed Sheeran-Konzert Dutzende von Bäumen gefällt werden sollen. Da müssen wir als Redaktion immer ein Auge drauf haben und filtern, welche Themen mit welcher Gewichtung wir im Tagesprogramm sehen. Und das dann umsetzen. 

 

„Egal ob als Konsument oder Musiker, es gibt mittlerweile für jeden alle Möglichkeiten, sich auszuleben“

 

RADIOSZENE: Wie haben sich aus Ihrer Sicht die Radio- und Musiklandschaft über die Jahre verändert?

Kai Tölke: Egal ob als Konsument oder Musiker, es gibt mittlerweile für jeden alle Möglichkeiten, sich auszuleben. Darüber ist ja alles schon vielfach gesagt und geschrieben worden, das möchte ich hier nicht alles noch mal wiederkauen.

Für mich ist die Sicht auf das, was sich nicht verändert hat, viel wesentlicher. Wenn du morgens aufstehst, willst du wissen ob die Welt sich noch dreht und was du heute anziehen musst. Da ist Radio für mich noch immer das Medium, das dich mit dem geringsten eigenen Einsatz in den Tag bringt. Du schaltest ein und ein paar Minuten später weißt du, was Phase ist.

RADIOSZENE: Welchen besonderen Herausforderungen muss sich Bremen Vier beziehungsweise die Branche allgemein in der Zukunft stellen?

Kai Tölke: Wir müssen uns mit den sich ändernden Bedürfnissen und Anforderungen unserer Hörerinnen und Hörer und der Zeit auseinandersetzen.  „Wir haben das aber immer so gemacht“ ist ein Satz, der ins Museum gehört. Und das betrifft alle Bereiche: Musik, Wort und Online.