Rücksturz in 1970er-Jahre: Am 1. April(!) 1971 erfolgt der Sendestart von Programm BAYERN 3. Zuvor wurde auf den Frequenzen seit 1964 in den Abendstunden das Gastarbeiterprogramm der ARD übertragen. 1971 startete man nun als bundesweit erste ganzheitliche Service-Welle: Das neue Angebot umfasste stündliche Nachrichten, Verkehrsfunk und aktuelle Informationen, wie zum Beispiel Segelflugwetter, Lawinenlage und Wasserstandsmeldungen. In den ersten Jahren liefen zunächst hauptsächlich vorproduzierte – teils unmoderierte – Sendungen. Nachrichten und ganze Sendungen wurden zeitweise auch direkt von BAYERN 1 übernommen. Dabei gab es zum Teil mehrere Minuten lange Schaltpausen, in denen nur das Signal des Bayerischen Rundfunks, die Melodie der Liedzeile „Solang der Alte Peter“ zu hören war. Für gewisse Abwechslung im Programm sorgten Ende der 1970er Jahre diverse Mitmachkurse wie die Isometrischen Übungen gegen Verspannungen am Arbeitsplatz, sowie Fitnessübungen für Skifahrer, die von Rosi Mittermaier und Christian Neureuther moderiert wurden.
Die Musik der ersten Jahre war ein bunter, eher heterogen aufgestellter Mix aus „leichter Popmusik“, Instrumentals und vielen deutschsprachigen Schlagern der Marke Udo Jürgens, Peter Cornelius oder Katja Ebstein. Was sich mit wachsender Bedeutung der Popmusik in Richtung der 1980er-Jahren zunehmend verschieben sollte. Möglicherweise auch wegen unfreiwilliger Havariegefahr zwischen geplantem Musikablauf und unvorhergesehenen Ereignissen. So wie beispielsweise im Jahr 1981 bei der ersten Musiknummer nach Bekanntwerden des missglückten Attentats auf Johannes Paul II, als der Titel „Im Leben geht mancher Schuss daneben” von Katja Ebstein für ungewollte Aufmerksamkeit sorgte.
Ihren Höhepunkt hatte die Welle in den 1980er-Jahren, als sich BAYERN 3 inhaltlich zu einem runden Pop- und Magazinradio hin entwickelt hatte. Zu dieser Zeit moderierte sich eine Riege junger Wilder um Sandra Maischberger, Thomas Gottschalk, Fritz Egner, Thomas Brennicke, Günther Jauch oder Peter Illmann in den Vordergrund – und katapultierte die Hörerzahlen auf einen sagenhaften Marktanteil von mehr als 50 Prozent! Überhaupt Thomas und Günther … ein tägliches Muss (nicht nur für eingefleischte BAYERN 3-Hörer) war die 15.45-Uhr-Übergabe der Sendungen von Gottschalk an Jauch. Ein Schlagabtausch auf allerhöchstem Niveau – in dieser Form selten wieder erreicht im deutschen Radio.
Parallel zum Wellenstart von BAYERN 3 stieß 1971 mit Jürgen Herrmann ein junger Musikexperte und Moderator zum Bayerischen Rundfunk, dessen musikalischer Weitblick und Expertisen bei Hörern wie Kollegen schon sehr bald in den Genuss höchster Weihen kamen. Gemeinsam mit Gottschalk und Egner zählte „Mr. Music“ zu den ausgewiesenen Musikfachleuten im Funkhaus am Rundfunkplatz. Viele seiner Sendungen gelten auch heute noch als Kult, seine Musikempfehlungen waren Gesetz. Weitblickend beschäftigte sich Herrmann mit dem damals aufkommenden Progressive Rock, den er als einer der allerersten deutschen Programmgestalter schon früh nachhaltig förderte. Auf BAYERN 3 moderierte Jürgen Herrmann mit seiner markanten Stimme eine große Zahl beliebter Sendungen wie „Club 16“, „Pop nach 8“, „Nachrock“, „Rock Dreams“, „BlueNightShadow“ oder „Classic Rock“.
2006 ging das BR-Urgestein nach 35 intensiven Jahren in den Ruhestand. Im Interview mit RADIOSZENE spricht Jürgen Herrmann über seine heutige Sichtweise zur aktuellen Musik- und Radioszene.
RADIOSZENE: Herr Herrmann, wie haben Sie damals zum Radio gefunden?
Jürgen Herrmann: Durch intensives Radiohören während meiner Jugendzeit in Berlin, unter anderem waren das RIAS Berlin, das englischsprachige Radio Luxembourg und die Soldatensender AFN und BFN mit den besten DJs und ihrer Musik. Radio war damals noch spannender als TV.
RADIOSZENE: Wer hat Sie entdeckt, wer war Ihr Lehrmeister?
Jürgen Herrmann: Entdeckt und gefördert haben mich 1970 Walther von La Roche, damals Leiter des BR-Jugendfunks und sein leitender Redakteur Rüdiger Stolze. Meine Lehrmeister waren die amerikanischen DJs vom AFN wie Wolfman Jack, Herman Griffith und Casey Kasem mit seiner wöchentlichen Show ,American Top 40‘.
RADIOSZENE: Sie haben bei BAYERN 3 unzählige Sendungen moderiert und gleichzeitig die passende Musik dafür ausgesucht. Welche Vorzüge hat diese Praxis, die heute ja eher die Ausnahme darstellt?
Jürgen Herrmann: Die Musikauswahl für die verschiedenen Programme oder Sendungen wurden nicht per Computer erstellt, sondern per Hand, die Auswahl war quasi handmade. Man hat sich die Songs intensiver angehört und sie entsprechend aufeinander abgestimmt. Es gab mehr Vielfalt und Abwechslung und die Sendungen waren natürlich unüberhörbar von einer persönlichen Note geprägt. Man konnte damals anhand der Musikauswahl oft den Redakteur oder Programmgestalter erkennen. Kollege Computer hatte eben nicht das zu bieten, was den Menschen ausmacht … a Lot of Feeling!!!
RADIOSZENE: Welche Musik und welche Künstler haben Sie damals am meisten geprägt und beeindruckt? Und welche Musik steht heute weit vorne im Plattenregal?
Jürgen Herrmann: Rock ’n’ Roll, R&B bzw. Soul, Pop und Rock, Country und Folk etc. Am meisten geprägt haben mich damals Elvis, Chuck Berry, Ray Charles, Aretha Franklin, The Beatles als Gruppe sowie als Solokünstler, The Rolling Stones, The Who, Deep Purple, Led Zeppelin, Santana, Pink Floyd, Eagles, Crosby, Stills, Nash & Young, Dire Straits, Billy Joel usw. Genau genommen all die großartigen Künstler und Bands der ,nifty Fifties‘, ,swingin’ Sixties‘ und der ,rockin’ Seventies‘. Aber natürlich auch die folgenden Jahrzehnte mit Roxy Music oder den Eurythmics und Genesis, U2, Simple Minds … and many, many more of them. Sie alle stehen ganz vorn im CD-Regal.
RADIOSZENE: Apropos, wie hören Sie heute Musik: CD, digital oder Musik?
Jürgen Herrmann: Über alle drei Quellen, aber hauptsächlich via CD und Vinyl, der „Good old Times“ wegen.
RADIOSZENE: Spielt bei Ihnen ein hoher Musikkonsum auch heute im Ruhestand noch eine Rolle?
Jürgen Herrmann: Eine nach wie vor große Rolle, it’s still Rock ’n’ Roll to me!
„Mir fehlt heute die instrumentale, gesangliche und kompositorische Vielfalt“
RADIOSZENE: Mit welchen Gefühlen beobachten Sie heute die Entwicklungen im Musikgeschäft?
Jürgen Herrmann: Mit zum Teil sehr gemischten Gefühlen – mir fehlt die instrumentale, gesangliche und kompositorische Vielfalt. Zu oberflächliches Songwriting. Für mich klingt vieles zu künstlich konstruiert und zu einheitlich, zu viel Sampling und Computer Sound. Aber so genau kann ich das auch nicht mehr beurteilen, da mir zur heutigen Musikszene der Zugang und auch das nötige Interesse fehlen.
RADIOSZENE: Sie hatten sich bereits in den 1980er-Jahren in Ihren Sendungen für progressive Rockmusik stark gemacht. Kommt dieses Genre heute im Radio zu kurz? Oder fehlt es einfach am passenden Repertoire?
Jürgen Herrmann: In Sendern wie BAYERN 1 oder SWR 1 ist dieses Genre noch vorhanden, bei den jüngeren Programmen passt es auf Grund der doch sehr unterschiedlichen Musikfarben nicht mehr so oft ins Format.
RADIOSZENE: Was bedeutet das Radio heute für Sie? Welche Sender verfolgen Sie noch?
Jürgen Herrmann: Radio, beziehungsweise die Formate, haben auf Grund ihrer Austauschbarkeit für mich keine so große Bedeutung mehr. Ich höre manchmal Internet-Radio, ab und zu BAYERN 3 oder BAYERN 1 und SWR 1 und so manchen Privatsender. Früher gab es bei den Sendern noch Programme mit unterschiedlichen Sendungen. Auf manchen Wellen klingt heute alles wie eine durchgehende Sendung, und das finde ich auf Dauer langweilig.
RADIOSZENE: Wie sehr hat sich aus Ihrer Sicht die Einführung des Privatfunks auf die Arbeitsweise und Programmausrichtung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausgewirkt?
Jürgen Herrmann: Die erhoffte Vielfalt ist ausgeblieben, die Formate der verschiedenen Popwellen gleichen sich zu sehr, viele Programme sind austauschbar. Mit der Einführung des Privatfunks in den 80ern war bei den öffentlich-rechtlichen Programmen eine programmliche Orientierung hin zu den Privaten nicht zu überhören. Handwerklich wie programmatisch und inhaltlich. Aber das hat sich mittlerweile wieder zum Positiven verändert, man kann wieder mehr unterscheiden. Bei beiden Systemen sollt man eins immer beherzigen: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk bekommt Geld via Rundfunkbeitrag um Programm zu machen, der Privatfunk macht Programm, um über Werbung Geld zu verdienen!
„Auf manchen Wellen klingt heute alles wie eine durchgehende Sendung, und das finde ich auf Dauer langweilig“
RADIOSZENE: Zu Ihrer Zeit wurden durch die Musikauswahl sowie die begleitende Moderation Hits gemacht und Künstler am Markt etabliert. Auch, wenn das ja nicht das eigentliche Ziel der Radiomacher war. Es passierte trotzdem. Heute spielt das Radio eher die Hits. Müsste hier der Hörfunk nicht wieder offensiver als „Musikentdecker“ auftreten?
Jürgen Herrmann: Auf jeden Fall müsste sich Radio wieder mehr engagieren und offensiver agieren, aber dafür braucht es mehr Programmvielfalt und nicht ständig nur Hits, Hits und nochmal Hits. Außerdem bräuchte es mehr Mut für unbekannte oder ausgefallene Musik- und Programmformate, mehr Freiheit für die Macher und natürlich wieder mehr Radio-Personalities.
RADIOSZENE: Der Musikmarkt bietet zwar aktuell eine riesige Zahl an neuen Songs und Künstlern. Gleichwohl fehlt es an Nachhaltigkeit. Nur wenige Pop- und Rockkünstler schaffen es heute, auch über das zweite oder dritte Album hinweg sich als feste Größe zu etablieren. Wie Adele oder Ed Sheeran. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Jürgen Herrmann: Sehr negativ, passt leider zur heutigen Zeit, in der sich unsere Gesellschaft immer schneller verändert.
RADIOSZENE: Gesetzt den Fall, Sie dürften heute nochmals eine Sendung komplett nach Ihren Vorgaben moderieren und gestalten. Wie würde diese aussehen?
Jürgen Herrmann: Wie damals: Die Musikauswahl sollte aus einem Mix aus guten alten und neuen Hits bestehen; bereichert mit viel neuer und unbekannter Musik, Moderation unterhaltend und informativ mit persönlicher Prägung, Radio muss wieder spannend werden.
RADIOSZENE: Was macht das Radio heute besser als zu Ihren Anfängen, was vermissen Sie, was würden Sie ändern?
Jürgen Herrmann:Die Mechanismen, die digitale Technik, der schnelle Zugriff für die Recherche per Internet. Ich vermisse die persönliche Note in der Musikauswahl und mehr Gestaltungsfreiheit für die Moderatoren, genau das würde ich ändern.
„Radio muss wieder spannend werden“
RADIOSZENE: Haben Sie eine Vorstellung wie sich der Hörfunk in den nächsten Jahren entwickeln wird?
Jürgen Herrmann: Viel wird sich wohl nicht mehr ändern, dazu hat sich das Hörverhalten zu sehr den heutigen Verhältnissen angepasst. Aber wie in vielen Bereichen unserer Gesellschaft könnte es wieder zu einer Rückbesinnung kommen, verbunden mit einer Sehnsucht nach der guten alten Zeit, als das Radio noch „zeitlos“ war. Für die Zukunft wünsche ich dem Radio wieder mehr an Bedeutung in unserer Gesellschaft, verbunden mit vielen unterhaltsamen und informativen Sendungen, immer auf Sendung!