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Thomas Jung: „Die Optimierungsmaßnahmen haben gegriffen“ 

SWR 3 – Nummer 1„And the Winner is … SWR3“ hieß am 11. Juli bei Bekanntwerden der neuesten Hörerzahlen der ma 2018 Audio II. Um sagenhafte 130.000 Hörer (plus 13,5 Prozent) bei den „Hörern pro Stunde“ (Montag bis Freitag, 6.00 bis 18.00 Uhr) legte das Vorzeigeprogramm aus dem Südwesten im Vergleich zur Frühjahrsauswertung zu – und übersprang dabei wieder die magische Millionen-Marke. Bei der „Tagesreichweite“ (Montag bis Sonntag) durfte man sich sogar über 300.000 neue Hörer freuen. Erfolge, die wegen ihrer Wucht bei den regionalen Mitbewerbern und Kollegen anderer ARD-Anstalten Rätselraten auslösten – zumal SWR3 bei der ma 2018 Audio I viele Hörer verloren hatten. Offenbar haben die Trendsetter um Programmchef Thomas Jung nach der Frühjahrsdelle die richtigen Schlüsse gezogen und das Schiff wieder auf Kurs gebracht. 

In dieser Woche veranstaltet der Sender mit dem jährlichen „New Pop Festival“ in Baden-Baden vom 13. bis 15. September sein traditionelles Premium Event.


Im Gespräch mit RADIOSZENE gibt Thomas Jung Auskunft über Veränderungen im SWR3-Programm und allgemeine Entwicklungen innerhalb der Radiolandschaft. Seit 2013 verantwortet Jung als Hauptabteilungsleiter der „PopUnit“ beim Südwestrundfunk zudem das Jugendangebot DASDING.     

RADIOSZENE: Herr Jung, Sie sind der große Gewinner der gerade veröffentlichten ma Audio. Nach einem eher durchwachsenen Ergebnis bei der Frühjahrsausgabe müssen Sie zuletzt ja alles richtig gemacht haben … oder wiegt die starke Online-Nutzung von SWR3 tatsächlich so schwer?

Thomas Jung (Bild: ©SWR)
Thomas Jung (Bild: ©SWR)

Thomas Jung: Es sind drei Faktoren, die zu diesem erfreulichen Ergebnis geführt haben: Die MA wurde neu gewichtet, das heißt aktuelle Bevölkerungsdaten vom Statistischen Bundesamt sind eingeflossen. Davon haben einige profitiert – auch SWR3. Dann sicherlich etwas die Online-Nutzung, da sind wir im Livestream auch sehr stark. Aber auch im linearen klassischen Programm haben wir kräftig zugelegt, was mich natürlich besonders freut. Die Optimierungsmaßnahmen haben gegriffen. Wir kannten die entstandenen Probleme. Wir verloren Frauen, wir verloren mittlere und niedrigere Bildungsschichten, die Bindung ließ etwas nach. Aber wir hatten schnell einen Plan.

RADIOSZENE: Was haben Sie darüber hinaus im Programm verändert?

Thomas Jung:  Musikalisch sind wir auf gutem Kurs, wir beobachten mit Interesse und Schmunzeln, wer sich an unserem musikalischen Layout orientiert. In der Comedy haben wir einen neuen Kurs verabredet. Am Wort-Content haben wir gemeinsam intensiv gearbeitet: wir begegnen unseren Zielgruppen inhaltlich auf Augenhöhe.

Beispiele: Wie viele unserer Hörer haben tatsächlich Geld für ein iPhone 8 oder gar X? Wie viele können sich Urlaub auf Bali oder in Südamerika leisten? Ausbildungstipps gehören genauso ins Programm von SWR3 wie die Suche nach Studentenbuden. Wir feiern nicht nur das Abitur, sondern auch andere Schulabschlüsse. Und wir haben an weiteren Stellschrauben gedreht: mehr Emotionalität im Programm, weniger nüchtern, faktisch, männlich; wir spielen den regionalen Charakter wieder stärker aus und bieten weniger „Auslandsjournal“; wir bringen mehr Einordnung, Haltung und bieten mehr Partizipation am Programm.

 

„Wir feiern nicht nur das Abitur, sondern auch andere Schulabschlüsse“

 

RADIOSZENE: Aus welchen Bereichen haben Sie diese stattliche Zahl an Hörer hinzugewonnen – oder haben Sie  auch bisherige Nichthörer reaktiviert – was nach Aussagen von Experten ja kaum mehr möglich ist?

Thomas Jung: Wir haben in allen Bereichen wieder zugelegt, besonders auch bei jüngeren Hörern und bei den Frauen. Bei 70 plus haben wir verloren – aber das verkraften wir (lacht). Zuwachs haben wir ab 6.00 Uhr  in allen Sendestunden und in fast allen Landesteilen des Sendegebiets. Aus dem Weitesten Hörerkreis konnten Menschen stärker an die Marke gebunden werden. Und Nutzer, die mal einen Ausflug zu Mitbewerbern gemacht hatten, kehrten zurück.

RADIOSZENE: Ihr Ergebnis belegt aber auch, dass die Zeit der „Radiodickschiffe“ entgegen allen Befürchtungen noch lange nicht zu Ende sein muss …

SWR3 Morningshow (BIld: ©SWR)

Thomas Jung: So sehe ich das. Und so sehen das auch meine Kolleginnen und Kollegen, die andere Radiodickschiffe steuern. Natürlich segeln wir hart am Wind. Die Mediennutzung der Menschen ist viel breiter, ihr Zeitbudget wuchs aber nicht mit. Das geht logischerweise etwas auf die Hörverweildauer. Alles andere wäre auch absurd. Man steht morgens auch kaum noch mit dem Radio im Schlafzimmer auf, das kommt erst im Bad oder am Frühstückstisch ins Spiel usw. Die Mediennutzung hat sich stark verändert. Aber insbesondere die großen Radiomarken mit breiter Zielgruppe gehen nicht unter, wenn sie mit der Zeit gehen und sich permanent weiter entwickeln und auf den relevanten Ausspielwegen präsent sind. 

RADIOSZENE: Der Hörer hat heute auf seinem Smartphone eine vielfältige Auswahl an allzeit verfügbaren Diensten, die früher das Radio in kompakter Form geleistet hat. Ich denke da an Wetter, Verkehr, Service. Wird hier der Hörfunk auf lange Sicht überflüssig? Mit welchen Strategien und Angeboten kontern Sie diese Entwicklung?

Thomas Jung: Nach wie vor gehört insbesondere der Verkehrsservice zum Radio. Das bestätigen uns die Hörerinnen und Hörer in Befragungen regelmäßig. Warum sonst haben wir rund 6.000 SWR3 Staumelder, die unser Verkehrszentrum mit aktuellen Informationen versorgen. Das belegen die immensen Zugriffe auf die Stauhotline oder die Staukarten von SWR3 im Netz. Der Mehrwert durch das Radio macht die Attraktivität aus: was ist dort vorne passiert? Wie lange dauern die Aufräumarbeiten noch? Wie lange dauert es, bis ich durch den Stau durch bin? Wir kümmern uns intensiv um die mobilen Nutzer. Das gilt aber gleichermaßen für Bahn- und Flugverkehr, wo wir vorne mit dabei sein wollen. Auch das Wetter ist immer noch von Relevanz. Die Menschen möchten wissen: T-Shirt-, Pulli- oder dicke Jacke? Oder: wann kippt das Wetter? Und: zieht das Unwetter nachher noch zu mir? Wir liefern, ohne dass unsere Nutzer aktiv etwas tun müssen. 

RADIOSZENE: Der Trend innerhalb der Bevölkerung zu seriöser Information wird unter anderem durch wachsende Reichweitenergebnisse von Kultur- und Informationsformaten der ARD und Deutschlandfunk belegt. Aber auch durch eine verstärkte  Nutzung von Podcasts. Ist dies auch ein Signal an die Macher der Infotainmentwellen?

SWR 3 TopthemaThomas Jung: Selbstverständlich ist die Aktualität und die Information schon lange ein verlässlicher, fester Bestandteil von SWR3. SWR3 Nachrichten, Regio-Kompakt, Topthema. Wir leisten uns ein aktuelles Mittagsmagazin, wovon sich viele längst verabschiedet haben. SWR3 reagiert als 24/7-Live-Programm sofort auf Aktualität, liefert Einordnung für die Menschen. Gerade in diesen international wie national unruhigen Zeiten möchten die Menschen einen zuverlässigen Halt. 

Podcasts sind ein Tool für die zeitsouveräne Nutzung von Audioinhalten. Auch in diesem Markt sind wir gut vertreten. Bei iTunes genauso wie in der sehr erfolgreichen ARD Audiothek.

 

„SWR3 ist in der Anmutung beiläufiger geworden. Das Marktschreierische passt längst nicht mehr in die Zeit“

 

RADIOSZENE: Beim Anhören von SWR3 fällt auf, dass der Sender heute weitgehend auf Claims und Slogans in eigener Sache verzichtet. Dies war nicht immer so. Eine gewollte Strategie?

Thomas Jung: Ja, SWR3 ist in der Anmutung beiläufiger geworden. Das Marktschreierische passt längst nicht mehr in die Zeit. Sounddesignelemente wurden umproduziert, Claims zurückgefahren und geändert, Trailer werden noch kürzer. Selbst die SWR3-Nennungen wurden zurückgefahren. Die Hörerinnen und Hörer fühlen sich durch die ständigen Wiederholungen genervt. Sie empfinden das als Unterbrechung, Störung, Männer mehr noch als Frauen. Komplett verzichten wir aber nicht. 

RADIOSZENE: Gelegentlich sind Sie auch bei der Gestaltung der Morningshow neue Wege gegangen, hatten dort zu besten Sendezeit lange Interviews mit Musikern oder Comedians eingebaut. Ein Experiment mit Zukunft?

Thomas Jung: Ein klares JA! Wobei die Stars nicht nur interviewt werden, sondern die Show mit moderieren. Sie werden beispielsweise bei Wetter, Verkehr, Comedy mit integriert. Wir überraschen sie mit kurzen ausgefallenen Spielen, wollen ihre Haltung zu aktuellen Themen wissen. Das macht Laune – uns Machern,  aber vor allem den Hörern. Das Ganze serviert als Audio und Video Livestream.

SWR3 Comedy (Bild: ©SWR)
SWR3 Comedy (Bild: ©SWR)

RADIOSZENE: Wie empfänglich sind die Hörer überhaupt für überraschende Änderungen im vertrauten Sendeablauf – beispielsweise durch Thementage?

Thomas Jung: Formatbrüche sind überlebenswichtig. Ja, wir sind Tagesbegleiter. Ja, Menschen sind Gewohnheitstiere und stehen auf ihre Marken. Aber seit Jahren schon führt Gewohnheit im Radio zu Langeweile und Langeweile zum Tod einer Welle. Die Nutzer bekommen jede Menge Angebote und Anreize in der digitalen (Überfluss-) Welt. Deshalb ist auch in unserem Geschäft die Überraschung wichtig. Und nicht jeder Formatbruch darf dann durch Trailer angekündigt sein! Das gilt für Themenschwerpunkte genauso wie für Comedyspecials, oder musikalische Sonderprogrammierung. Überraschung für die Nutzer gehört zur DNA von SWR3. Dafür schätzen uns die Menschen auch, deshalb sind wir auch in der Überraschung vertraut.

Michael Wirbitzky und Sascha Zeus (Bild: ©SWR)
Michael Wirbitzky und Sascha Zeus (Bild: ©SWR)

RADIOSZENE: Mit Michael Wirbitzky und Sascha Zeus haben Sie Deutschlands bestes Morningshow-Gespann unter Vertrag. Hinzu kommt eine große Zahl weiterer beliebter Moderatoren. Viele Kollegen klagen über eklatante Nachwuchsprobleme, junge Menschen hätten das Radio als Karrierechance kaum mehr im Blickwinkel. Haben Sie Mühe passende Talente zu finden?

Thomas Jung: Dieses Problem haben wir alle, wobei ich durch viele Kollegen-Gespräche weiß, dass es kein Radio-Phänomen ist. Die Medienbrache hat insgesamt Probleme, guten Nachwuchs zu bekommen. Junge Menschen, die „brennen“, die mit Leidenschaft und einem Höchstmaß an Kreativität antreten. Wir hatten schon Ausschreibungen, wo wir keinen einzigen Bewerber, keine einzige Bewerberin genommen haben. „Irgendwas mit Medien“ ist ein Satz, den ich wirklich nicht mehr hören kann. Umso schwerer ist es, neue „Personalities“ zu finden und aufzubauen. Die Generation Y stellt uns vor Herausforderungen. Früher war der Schlüssel Karriere, Geld, vielleicht noch Festanstellung. Heute geht es um Abwechslung, Team- und Projektarbeit, Freiheit. Treue zur Marke geht in der Bedeutung zurück.

 

„Überraschung für die Nutzer gehört zur DNA von SWR3“

 

RADIOSZENE: In der Kritik steht auch die Einengung der Moderatoren durch ein zu eng gestecktes Formatgerüst. Wie viele Freiheiten geben Sie Ihren Mitarbeitern am Mikrofon?

Thomas Jung: SWR3 versucht nichts gegen Moderatorinnen und Moderatoren durchzusetzen. Wir versuchen Veränderungen mit ihnen zu entwickeln. Das gilt für neue Teasing-Regeln genauso wie für die Ausgestaltung eines neuen Sendestudios. Die Mods sind unser Kapital. Wir fordern und wir fördern sie. Die „Moderations-Bibel“ – heute das Style-Book – hat bei SWR3 eine sehr lange Tradition. Aber ich würde behaupten wollen, dass sich keiner durch diese groben Leitplanken eingeengt fühlt. Es gibt einige wichtige Grundsätze, an denen wird nicht gerüttelt. Darüber hinaus sollen die Moderatoren mit Spaß ihre Sendungen gestalten. Und wenn das authentisch rüber kommt, sind auch die Hörerinnen und Hörer von ihren Tagesbegleitern begeistert und lassen sie nah an sich ran. 

RADIOSZENE: SWR3 hat im Programm traditionell einen sehr hohen Anteil an musikredaktionellen Inhalten. Zuletzt hat man den Eindruck, dass sich die Sendezeit für entsprechende Inhalte und Musikmoderation gefühlt sogar weiter erhöht hat. Auch eine Reaktion auf die wachsende Beliebtheit von Streamingdiensten?

Thomas Jung: Neben einer abwechslungsreichen und überraschenden Musikprogrammierung spielt die Abbildung musikredaktioneller Inhalte für SWR3 seit jeher eine große Rolle. Wir bringen nicht nur Musik neuer Künstler ins Radio, sondern geben unseren Hörerinnen und Hörern auch die Infos zu diesen Künstlern, erzählen Hintergründe, ordnen Stil und Musik ein. Wir bringen neue Musik in den Mainstream und geben unseren Hörerinnen und Hörern die Möglichkeit, sie zu entdecken. Wir ordnen im immer größer werdenden Musikdschungel. Daneben haben wir Serien wie „Die größten Hits und ihre Geschichte“, die „Musiknews der Woche“, die „SWR3 Lyrix“, natürlich jeden Tag aktuelle Moderationen aus dem Bereich Musik und zu den Bands, die für uns relevant sind. Feste Bestandteile des Musikjournalismus bei uns sind Interviews mit Musikern, Konzertberichterstattung und Studiobesuche von Künstlern.

SWR3 Live-Lyrix (Bild: ©SWR)
SWR3 Live-Lyrix (Bild: ©SWR)

Durch die große Fachkompetenz unserer Musikredaktion können wir genau das bieten, was andere Radiosender oftmals und insbesondere die Streamingdienste nicht leisten können: Fundierten Musikjournalismus. Unsere Musikredaktion geht – neben den täglichen Redaktionssitzungen und unterjährig mehreren Meetings, in denen die aktuellen Themen und Handlungsbedarfe gespiegelt werden – ein Mal im Jahr in Klausur, überprüft die bestehenden Inhalte, spricht über neue Ideen fürs Programm und versucht immer weiter, die Inhalte und die Musiksendungen zu optimieren. Daraus entstehen immer wieder neue Rubriken und eine größere Abbildung von musikredaktionellen Dingen in den Sendungen. Zuletzt haben wir den „SWR3 Popshop“ noch dezidierter musikredaktionell aufgewertet. Wir leisten weit mehr als nur die Zusammenstellung von Titeln, wir bringen den Mehrwert dorthin, wo er hingehört: zu den Hörern.

RADIOSZENE: Wie sehen Sie grundsätzlich die Entwicklung von Spotify und Co.? Eher eine Gefahr für den Hörfunk – oder wie manche meinen eine Chance?

Thomas Jung:  Der direkte Vergleich zwischen Streamingdiensten wie Spotify und Radio bietet sich meines Erachtens zurzeit nicht an. Während sich – derzeit immer noch vorwiegend jüngere Menschen – proaktiv bei den Streamingdiensten um das Entdecken neuer Musik kümmern müssen, sind wir ein verlässlicher Partner für die Musikinteressierten, die jedoch keine Zeit aufwenden können oder wollen, sich durch Playlisten zu klicken. Die wenigsten Menschen, die im Berufs- und Familienleben stehen, werden sich freitags eine oder zwei Stunden freischaufeln, um mal zu schauen, was neu auf Spotify zu finden ist. So wie früher zum Beispiel iTunes die Musik-Library für Menschen war beziehungsweise teilweise noch ist, auch wenn die download-to-own-Zahlen drastisch zurückgehen, nutzen sehr viele Menschen Spotify und Co. heute als ihre Musik-Library – freilich mit größerer Auswahl. Die Streamingdienste sehe ich derzeit nicht als Gefahr fürs Radio, sondern als ein weiteres, inhaltlich anderes Angebot, das sich neben dem Radio natürlich auf dem Markt etabliert hat. Dies werte ich aber als Zusatzangebot, nicht als Player, die den Radiomarkt kannibalisieren. Wir behaupten uns seit vielen Jahren sehr erfolgreich auf dem Radio- und damit auch dem Musikmarkt. Wenn Sie sich allein die Zahlen der ma Audio II 2018 anschauen: fast vier Millionen Menschen schalten täglich SWR3 ein, unsere Zahlen sind in einem Zeitraum gestiegen, in dem der Umsatz durch Streamingdienste zum allerersten Mal die Umsätze durch physische Verkäufe überstiegen hat. Insofern: Weder Gefahr, noch Chance, sondern im Moment ein weiteres Angebot im Bereich Musik.

 

„Im Gegensatz zu anderen Radiosendern, deren Devise ist: „Wir machen keine Hits, wir spielen Hits“, ist es für SWR3 seit jeher eine Aufgabe, die wir uns selbst gesetzt haben, neue Künstler in ihrem Aufbau und ihrer Entwicklung zu unterstützen“

 

RADIOSZENE: Generell haben sich die Musik und ihre Produktionsformen in den letzten Jahren doch verändert. Die Zahl der No-Names, die durch Castingshows oder YouTube in die Charts gespült werden, hat sich stark erhöht. In den Single-Charts befinden sich zeitweise gefühlte 50 Prozent an Rap/HipHop Songs, dazu viele Hits aus dem Dance-Segment. Genres, die nicht unbedingt die Mehrzahl der Radiohörer landesweiter Wellen ansprechen. Hinzu kommt, dass immer mehr in Richtung Crossover produziert wird – also mehrere Genres wie Dance, HipHop oder Pop in einen Song gepackt werden. Ist die Musikgestaltung im Radio heute schwieriger geworden?

SWR3 Musik (Bild: ©SWR)

Thomas Jung: Tatsächlich ist die Musikgestaltung im Radio heutzutage schwieriger, als das noch vor 10 oder 15 Jahren der Fall war. Nicht jeder Castingshow-Gewinner, der in den Verkaufscharts reüssiert, läuft im Radio. Die Erfolge von HipHop-/Rap-Alben in den Album-Verkaufscharts beruhen häufig darauf, dass spezielle Editionen und Packages hergestellt werden, die in der Verkaufswertung höher eingestuft werden und somit schneller höhere Chartpositionen generieren können. Bei den Einzeltiteln aus diesem Bereich sind die hohen Abrufzahlen in den Streamingdiensten ein entscheidender Faktor, da diese inzwischen für die Erhebung der Charts von großer Relevanz sind. Für SWR3 und seine Hörer spielt der Bereich „Sprechgesang“ tatsächlich eine eher untergeordnete Rolle, da haben Sie recht. Der Bereich EDM hat sich hingegen mittlerweile im Mainstream etabliert. Gleichwohl stellen wir in den vergangenen zwei Jahren eine Entwicklung fest, die wieder hingeht zur modern produzierten, gleichwohl etablierten Musik. Denken Sie an Künstler wie Rag‘n‘Bone Man, Welshly Arms, Tom Walker oder Lewis Capaldi. Diese Künstler bedienen auf eine moderne Art und Weise Genres, welche die Radiohörer kennen und die sie sehr ansprechen. Hier das richtige Händchen für die Gewichtung zu haben, ist durchaus eine Herausforderung, der sich unsere Musikredaktion tagtäglich stellen muss. Eine weitere Schwierigkeit sind die Kooperationen. Es gibt immer wieder die Situation, dass DJ A und DJ B als Stimme auf ihren Tracks Sängerin XY einsetzen, die aber zeitgleich eine eigene Single auf dem Markt hat. Dadurch blockieren sich Songs oftmals gegenseitig und es bedarf einer akribischen Musikplanung, hier Räume zu schaffen, dass sich nicht der Eindruck aufdrängt, dass ständig dieselbe Künstlerin zu hören ist. Untersuchungen weisen darauf hin, dass Hörer im Radio gerne ihre Genres hören. Wichtig ist, diese Genres als Ankerpositionen abzubilden und gleichzeitig den kontemporären Stand des Musikmarkts zu den Hörern zu bringen. Im Gegensatz zu anderen Radiosendern, deren Devise ist: „Wir machen keine Hits, wir spielen Hits“, ist es für SWR3 seit jeher eine Aufgabe, die wir uns selbst gesetzt haben, neue Künstler in ihrem Aufbau und ihrer Entwicklung zu unterstützen. Der Erfolg von SWR3 zeigt, dass dies von den Hörern goutiert wird. 

RADIOSZENE: Einige mit SWR3 vergleichbare Programme verzichten bereits ganz auf Titel der 80er und 90er Jahre. Oder haben deren Anteil drastisch reduziert. Welchen Stellenwert haben die Hits aus diesen Dekaden noch im SWR3 Programm?

Thomas Jung: Wenn Sie bedenken, dass die musikalische Sozialisation von Menschen im Teenageralter und der frühen Zeit ihrer Adoleszenz geschieht, sind Titel aus den 80ern und 90ern ein essentiell wichtiger Faktor für den großen Erfolg eines Dickschiffes wie SWR3. Unsere Musikspezialtage zu den 80ern und den 90ern sind mit die von unseren Hörern am besten bewerteten Eventprogrammierungen. Natürlich kommt es auf die Mischung aller Titel an, aber auf Hits dieser Dekaden zu verzichten, hielte ich für unser Programm für einen immensen Fehler. Gleichwohl sprechen wir hier eben auch über „Dekaden“, nicht über Musikrichtungen. Die 80er und die 90er waren musikalisch sehr vielfältig. Es gibt Bands und Musik aus dieser Zeit, die in unserem Musikprogramm keine oder bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen, und Musik, die sich perfekt in unseren Flow einpasst. Mike Oldfield ist nichts für SWR3, Depeche Mode hingegen absolut. Insofern – immer die Mischung beachtend – 80er und 90er sind ein unabdingbarer Bestandteil der Musikauswahl bei SWR3. Wir übertreiben es nicht. Aber diese Dekaden zu streichen bedeutet, Menschen eine musikalische Heimat zu nehmen. Und dann wenden sie sich von uns ab.

 

„Ich habe schlicht kein Verständnis dafür, dass hier andere Anbieter, wie zum Beispiel Spotify, bevorzugt bedient werden“

 

RADIOSZENE: Wie erwähnt spielt Streaming in den Strategien der Musikwirtschaft eine dominierende Rolle. Die digitalen Formate haben heute die CD und Schallplatte als meist genutzte Formate abgelöst. Diverse Songproduktionen werden bereits auf die Vermarktungsabläufe der Streamingdienste zugeschnitten. Bei den Veröffentlichungsterminen neuer Songs heißt es oft: „Spotify first“. Wie schmeckt Ihnen diese Entwicklung? Ist Radio hier bereits uneinholbar im Hintertreffen?

Thomas Jung: Hier sprechen Sie einen Punkt an, der tatsächlich für einen Sender wie SWR3 ein großes Ärgernis ist. Und hier verstehe ich auch die Policy der Labels nicht: Laut der letzten agma-Studie hören 95 Prozent der Deutschen regelmäßig Radio. Das bedeutet, dass fast jeder Deutsche Radio hört. Nun haben wir uns, wie bereits erwähnt, zum Ziel gesetzt, gute Künstler von Anfang an zu begleiten und zu unterstützen. Und ich habe schlicht kein Verständnis dafür, dass hier andere Anbieter, wie zum Beispiel Spotify, bevorzugt bedient werden; Musiklibraries, die insbesondere von jungen Menschen genutzt werden. Wenn Sie einen neuen Künstler einer breiten Masse bekannt machen wollen, dann gibt es kaum einen besseren Weg, als das Radio. Die Labels geben zunehmend beim Künstleraufbau eine Chance aus der Hand – und das mag und kann ich nicht verstehen. Und bei allem Verständnis dafür, dass die Labels natürlich mit den großen Playern im Bereich der Streamingdienste auch aus finanziellen Gründen arbeiten müssen, halte ich es für extrem kurzsichtig, die jahrzehntelange gute Zusammenarbeit zwischen Labels und Radios durch dieses Verhalten nicht nur nicht weiter auszubauen, sondern letztlich zu schädigen.

RADIOSZENE: Die Präsentation von Konzerten – von intimen Hörerkonzerten bis zu Großereignissen – war immer eine Domäne von SWR3. Eine Strategie die Sie auch weiter beibehalten? Wie schwer ist es – auch vor den oben geschrieben Szenarien – Ihre Wunschmusiker zu passenden Rahmenbedingungen zu verpflichten?

Thomas Jung: Wir hatten großen Erfolg mit unserer Hautnah-Serie, die nach und nach von immer mehr Sendern kopiert und adaptiert wurde. Mittlerweile sprechen wir in diesem Bereich nicht mehr nur von anderen Radiostationen, sondern eben auch von Playern, die den Musikmarkt für sich entdeckt haben. Das ist ein Umstand, mit dem wir uns auseinandergesetzt und entsprechend neue Reihen etabliert haben. Im März haben wir zum ersten Mal eine „SWR3 Studio Session“ mit Rea Garvey gemacht. Hier konnten Fans – vor Veröffentlichung des Albums – einen Tag im Tonstudio dabei sein, bekamen an den Screens und am Mischpult erklärt, wie ein Song entsteht, der Künstler hat erzählt, wie er seine Songs schreibt, wie aus einer Songidee eine Produktion wird, welche Rolle sie spielt usw., anders gesagt: der Künstler hat uns Zugang in das Allerheiligste gewährt, was keineswegs selbstverständlich ist. Zum Abschluss des Tages im Studio gab es noch ein kleines, exklusives Konzert für die Gewinner. Dies wollen wir weiter verfolgen. Eine weitere neue Reihe ist die „SWR3 Casino Session“ in Zusammenarbeit mit dem Casino Baden-Baden. Hier hatten wir schon Künstler wie Max Giesinger, Louane oder James Bay zu Gast. Da der Florentiner-Saal einmalig und nicht kopierbar ist, werden wir in dieser Reihe auch weiterhin außergewöhnliche Künstler an einem außergewöhnlichen Ort präsentieren. Im Klartext: finanziell können und wollen wir mit privatwirtschaftlichen Anbietern zum Beispiel aus dem Telekommunikationsbereich nicht mithalten. Unser Pfund ist der Ideenreichtum unserer Musikredaktion, die Leidenschaft für Musik. 

RADIOSZENE: In dieser Woche veranstalten Sie in Baden-Baden vom 13. bis 15. September wieder ihr traditionelles „New Pop“- Festival. Mit welchen Highlights und Künstlern dürfen die Besucher in diesem Jahr rechnen?

SWR 3 New Pop-FestivalsThomas Jung: Wir freuen uns in diesem Jahr auf Namika, Lea, Nico Santos aus Deutschland. Aus Finnland kommt Alma – die hätte im vergangenen Jahr schon spielen sollen, musste ihren Auftritt aber  wegen einer Erkrankung absagen. Um ihr diese Chance zu geben, haben wir dieses Jahr ein Konzert mehr im Portfolio: mit Mike Singer wenden wir uns sehr bewusst an ein ganz junges Publikum. Aus Amerika kommen die wunderbare Deva Mahal, Lauv und The Night Game, aus Südafrika Jeremy Loops und aus England Tom Walker. Besonders freuen wir uns auch auf die wunderbare Mabel, die am Freitagabend im Theater spielen wird und in Deutschland noch ein echter Geheimtipp ist – ganz im Gegensatz zu ihrer Wahlheimat England. Da wir auch in diesem Jahr jedes Konzert des Festivals mehrfach hätten ausverkaufen können, geben wir den Musikfans, die nicht das Glück hatten, eine Karte zu ergattern, auf unserer Live-Bühne die Chance weitere hochwertige Künstler zu sehen. In diesem Jahr spielen dort Hugo Helmig, Tom Gregory, Xavi, ELI, Parallel und Carrousel. 

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