Hand aufs Herz, liebe RADIOSZENE-Leser, haben Sie schon einmal von der „Liederbestenliste“ gehört? Nein? Schade. Denn die monatliche Hitparade gibt einen Überblick auf das Schaffen deutschsprachiger Liedermacher und zeigt, dass es hierzulande auch jenseits der eher Pop-orientierten Bendzkos, Poisels, Meyles oder Giesingers durchaus noch eine andere, kulturell sehr aktive Singer Songwriter-Szene gibt.
Natürlich hatten Reinhard Mey, Stoppok, Manfred Maurenbrecher, Hannes Wader, Max Prosa, Konstantin Wecker und Kollegen schon immer ihr treues Publikum, waren/sind erfolgreich auf den Konzertbühnen – und auch beim Absatz ihrer Tonträger. In den deutschen Radioprogrammen sucht man nach ihren Songs – trotz gelegentlicher Proteste wie etwa durch den streitbaren Reinhard Mey – in der Breite indes meist vergebens. „Testet schlecht, passt nicht ins Format, ist nichts für unserer Hörer“, so die oft gehörten Argumente für einen Verzicht einschlägiger Songs. Musikalisch liege das nicht im Trend, sei altbacken. Was für ein Vorurteil! Dass die Texte oft auch sehr politisch sind, Mißstände offen ansprechen, polarisieren, zum Nachdenken provozieren – mag der wahre Grund sein, warum diese Lieder vom einen oder anderen Programmgestalter nicht angefasst werden. Ausgesprochen wird dies natürlich nicht.
Wirklich ernsthaft beschäftigen sich nur wenige Musikverantwortliche beim Hörfunk mit dieser Sparte, die Neuheiten wandern meist ungehört – im wahrsten Sinne des Wortes – ab in die Nische. Schade, schade – dabei hat sich die Szene über Jahre durch neue musikalische Impulse immer wieder neu erfunden. Kompositionen, Instrumentierung und Produktion haben längst internationalen Standard. Die Texte sind naturgemäß ohnehin hörenswert. Die Szene lebt und schwemmt in schöner Regelmäßigkeit auch die Veröffentlichungen von Liedermachern- und Straßenmusikern in die Verkaufscharts, nicht nur die der Protagonisten wie Reinhard Mey oder Niedecken. Auch AnnenMayKantereit oder Faber waren zuletzt erfolgreich in den Hitparaden vertreten, wurden daher sogar vom Radio vergleichsweise gut gespielt.
Die „Liederbestenliste“ gibt es seit Oktober 1983. Bis 2003 angesiedelt beim Südwestfunk beziehungsweise Südwestrundfunk, wird sie seitdem vom Deutschsprachige Musik e.V. getragen. Diese „Hitparade für deutschsprachige Liedkunst“ ist das Ergebnis der monatlichen Wertung einer Jury von ExpertInnen aus Deutschland, Österreich, Belgien und der Schweiz.
Außerdem wählen die JurorInnen monatlich das „Album des Monats“ aus denen sich dann auch ein „Album des Jahres“ ergibt. Weiterhin werden in wechselnder Reihenfolge persönliche Empfehlungen für ein Lied beziehungsweise ein Album abgegeben.
Im Herbst eines jeden Jahres wird – mit Unterstützung der Musikzeitschrift „Folker“ und dem Kultursommer Rheinland-Pfalz im Unterhaus Mainz – der „Liederpreis“ vergeben. Zu den „Liederpreis“-Trägern gehören beispielsweise Wolf Biermann, Franz Josef Degenhardt, Gerhard Gundermann, Franz Hohler, Manfred Maurenbrecher, Reinhard Mey, Wenzel, und Konstantin Wecker.
Alljährlich wird auch ein „Förderpreis“ ausgelobt, für den man sich bewerben kann. Zu den „Förderpreis“-Trägern der vergangenen Jahre zählen Dota Kehr, Strom & Wasser, Caro.Kiste.Kontrabass und Tobias Thiele.
Jede Menge Empfehlungen also für anspruchsvolle und gut gemachte Musik aus dem deutschsprachigen Raum. So gesehen lohnt sich also schon ein regelmäßiger Blick auf die „Liederbestenliste“ – namentlich für die Musikredakteure der öffentlich-rechtlichen Landeswellen. Es müssen ja nicht nur immer die allerorts vertretenen Titel und Interpreten aus den Hitparaden sein.
Die „Liederbestenliste“ wird derzeit im Radio von WDR 5, ByteFM, SR 3 Saarlandwelle, Deutschlandfunk, Rockradio.de, Freies Radio Kassel und CMSRADIO FM berücksichtigt.
RADIOSZENE sprach über die „Liederbestenliste“ mit Hans Jacobshagen, stellvertretender Präsident des Vereins Deutschsprachige Musik und Leiter der Programmgruppe Unterhaltung bei WDR 5.
RADIOSZENE: Mit welchen Zielen wurde 1983 die „Liederbesten“ ins Leben gerufen?
Hans Jacobshagen: Überall gab es Hitparaden. In diesen Hitparaden fanden aber immer weniger ausgefallenere Produktionen statt. Auch das politische Lied kam faktisch nicht vor. Da haben sich ein paar Fachleute, vornehmlich Journalisten, zusammengetan, eine Jury gegründet, um ähnlich der Literaturbestenliste im SWF (heute SWR) Lieder in eine Bestenliste aufzunehmen, die nach inhaltlichen Gesichtspunkten ausgewählt werden ohne Berücksichtigung des Kommerziellen.
RADIOSZENE: Wer sind die Träger der „Liederbestenliste“?
Hans Jacobshagen: 1984 war die Liederbestenliste zunächst beim Südwestfunk angesiedelt bis 2003. Danach gründeten die Juroren den Verein Deutschsprachige Musik, der seitdem Träger ist.
RADIOSZENE: Gibt es eine Definition, welche Songs als „Lieder“ in die Liste aufgenommen werden?
Hans Jacobshagen: Nein. Die JurorInnen sind da völlig frei. Sie wählen aus dem Ihnen bekannten Material Lieder aus, denen sie eine größere Zuhörerzahl wünschen. Das können völlig unbekannte Künstler sein, die da zu Gehör kommen, aber auch bekannte wie zuletzt beispielsweise Niedecken können in der Liste vertreten sein. Maßgeblich ist nur die Qualität.
RADIOSZENE: Wie werden die Platzierungen ermittelt und aus welchem Personenkreis setzt sich die Jury zusammen?
Hans Jacobshagen: Die Jury besteht aus Fachleuten, in der Regel Journalisten. Selbstverständlich sind da keine Produzenten oder Künstler dabei, die ihre eigenen Produkte featuren. Sollte einmal jemand in eine Produktion verstrickt sein, macht er das öffentlich und wird diese Produktion nicht mit einem Votum einbringen. Jedes Jurymitglied kann sieben Titel im Monat auswählen und für diese Punkte vergeben. Außerdem kann eine CD des Monats gewählt werden.
RADIOSZENE: Wie hoch schätzen Sie unter der Gesamthörerschaft den Anteil der Personen, die sich für deutsche Liedermacher interessieren?
Hans Jacobshagen: Es besteht wieder mehr Interesse an deutscher Musik. Leider werden die „Lieder“ da gern mit dem neuen deutschen Schlager verwechselt, der nach Handbüchern von vornherein nur kommerziell konzipiert wird. Aber Köster, Niedecken, Stoppok und natürlich Konstantin Wecker, der keine Gelegenheit auslässt, auch für die Liederbestenliste zu werben (wofür wir ihm sehr dankbar sind) haben ihr Publikum, auch Bodo Wartke steht der Idee nahe. Klar: Viele bleiben Nischenprodukte, die es sich aber lohnt, kennenzulernen. Klare Antwort: Die Liederhörer sind eine Minderheit, aber eine qualifizierte.
RADIOSZENE: Neben den in der breiten Öffentlichkeit etablierten Interpreten wie Reinhard Mey, Konstantin Wecker oder Niedecken finden sich innerhalb der Platzierungen auch zahlreiche, eher (noch) unbekannte Künstler. Ist die „Liederbestenliste“ vor allem auch ein Sprungbrett für Talente?
Hans Jacobshagen: Ich hoffe das sehr. Es gibt immer wieder Hörer, die nach den Sendungen nachfragen. Und auch der Liederpreis präsentiert ja alle Jahre neue Talente, ebenso wie die gut besuchten Festivals „Songs an einem Sommerabend“ in Würzburg und „Lieder auf Banz“, die sich erfolgreich der Nachwuchspflege widmen.
RADIOSZENE: Deutschsprachige Musik hat es im Radio nicht immer leicht. Trotz vergleichbarer Standards mit internationalen Produktionen finden sich deutlich weniger deutsche Songs auf den Playlisten der Sender. Dies gilt auch für die allermeisten Titel aus der „Liederbestenliste“. Darunter gibt es zahlreiche sehr ansprechende Kompositionen mit aussagekräftigen Texten. Müssten die Programme, hier spreche ich von den Landeswellen und Kultursendern, sich nicht mehr aus dem Fundus der Bestenliste bedienen?
Hans Jacobshagen: Wir werden die Radiolandschaft nicht neu erfinden. Ich bin froh, dass es immer noch Sender gibt, die sich explizit mit ausgefallenen und weniger populären Dingen beschäftigen. Mehr können wir da im Moment wohl nicht erwarten. Nur hoffen, dass die Gebühren für die öffentlich-rechtlichen Sender bleiben, um auch solchen Produktionen eine Chance zu geben.
Michael Schmich