2017 war sicher kein herausragendes Jahr der italienischen Popmusik – zumindest sind auf den Tischen der Musikredaktionen vergleichsweise wenige spielbare Neuveröffentlichungen aus dem Land unserer südlichen Nachbarn gelandet. Jetzt zum Jahresende hin gibt es aber wieder ein Lebenszeichen von Altmeisterin Gianna Nannini. Und ich muss gestehen, ihre Karriere und Musik habe ich immer mit besonderer Sympathie verfolgt. Weil sie eben immer so wunderbar gegen Strich gebürstet war/ist (wie ihrer Frisur) – und immer für eine Überraschung gut.
Gianna Nannini wurde über Nacht zu einem umstrittenen Star. Viele liebten sie, noch mehr hassten sie – und alle redeten über sie. Seit 1980, als die hitzig diskutierte Single „America“ ihr erster weltweiter Megaerfolg wurde, kann Gianna sich alles erlauben und nutzt diese Freiheit ausgiebig. Jede Textzeile verheißt Protest, Auflehnung und häufig auch: Sex.
Auch auf ihrem kraftvollen neuem Album „Amore Gigante“ – es ist ihre 18. Studio-Produktion – nimmt das Energiebündel kein Blatt vor den Mund: „Den Titel habe ich ganz bewusst gewählt, er ist eine Hymne an das stärkste Gefühl, das die Menschheit kennt – ich huldige „Amore“ in all ihren Spielarten. Also im Sinne der Freundschaft, der Erotik, der Empathie. Nur diese Emotion ist das einzig verlässliche Bollwerk gegen Aggression, Krieg, Ausbeutung. Liebe macht den Menschen frei, friedlich und fair.“
Musikalisch hat sich Nannini nach eigener Aussage „zurückbesonnen auf meine ureigene Tradition aus den Achtzigern: Mehr schweißtreibender Rock als freundlicher Pop. Ich habe immer noch jede Menge Freude daran, Euphorie in meiner Arbeit auszuleben und weiterzugeben. Ohne Ekstase bedeutet mein Leben nichts.“
Aufgenommen wurde das aktuelle Werk der Italo Rock-Queen sowohl in Los Angeles als auch in London. „In L. A.“, lacht Gianna, „sind die härteren Stücke produziert worden, weil es da so viel Sonne gibt, die lädt mich mit Energie auf. In London die etwas nachdenklicheren Lieder, wegen all dem Regen, der da gerne fällt. Da werde ich gerne ein wenig nostalgisch. Somit jedenfalls die perfekte Kombination für „Amore Gigante“. Wie gesagt: Ich liebe die Extreme!“
Mit „Amore Gigante“ stellt Gianna Nannini souverän unter Beweis, dass sie nicht zu Unrecht die einzige italienische Singer/Songwriterin ist, die seit Dekaden glühende Fans in ganz Europa besitzt. Und das, obwohl sie weiterhin ihre Texte konsequent auf Italienisch schreibt und singt. Das Cover des Albums wird in fünf verschiedenfarbigen Versionen erscheinen, die Lieder auf CD, Vinyl und als DeLuxe-Ausgabe, welcher eine zweite Platte beiliegen wird, die einen Mitschnitt von 14 Tracks des schon heute legendären „Live-in-Verona“-Konzerts beinhaltet.
In Szene gesetzt haben das grandiose Szenario die Produzenten Alan Moulder, Michele Canova Iorfida und Will Malone, der die Streicher des „London Session Orchestra“ ins Boot gezogen hat. Was für ein grandioser Auftritt!
Letztlich bleibt bei manch himmlisch-herrlichem Spektakel eindrücklich zu vermerken, was Gianna ihrer neuen Arbeit mit auf den Weg gibt: „Es mag sich vieles ändern. Aber ich bin noch da!“ Genau so ist es. Genau so ist es gut. Wunderbar gut.
Anspieltipp: „L’ultimo Latin Lover“.
Michael Schmich