Patrick Lynen: Radio ist geschicktes Gefühlsmanagement

Das Spannendste im Leben sind Menschen. Höhepunkte, Pausen, Durststrecken, Enttäuschung, Freude. Das Radioprogramm mit Zukunft wird spannend, weil es die Gefühlswelt wieder anspricht.

Lynen_aufgestuetzt110Die Ergebnisse der Medienforschung zeigen es immer wieder: Die Rezipienten-Bindung bleibt über Inhalte, Positionierung, Musik oder Claims eher schwach. Erst wenn ein Programm einen individuellen und emotionalen Moderationsstil entfalten kann, entsteht eine dauerhafte Bindung zum Nutzer. Menschliche Kommunikation ist erstaunlich komplex. Kommunikation ist mehr als nur reden. Kommunikation ist mehr als nur texten. Mehr als nur Stimme. Diese Erfahrung durften wir alle bereits machen. Kommunikation ist nicht nur der Austausch von Worten: Fühlt sich der Hörer (Gesprächspartner) wohl? Fühlt er sich überfahren, bedrängt oder zu sehr auf Distanz gehalten? Wie sieht die zur Situation passende Haltung, Mimik oder Geste aus? Diese Feinheiten kann keine Automation generieren. Ironie vermittelt sich nicht schematisch, feinfühlige Stimmläufe sind bis zum heutigen Tag nicht programmierbar.

Moderation ist eine Frage der „Haltung“

Moderation ist nicht nur eine Frage des Handwerks, sondern auch eine Frage der„ Haltung“ und Einstellung. Nicht selten kommt die Dimension der Selbstoffenbarung dazu. Wer nichts von sich preisgibt (Fakten, Beziehungsebene, Appelle), zwischen den Zeilen„ sendet“, der wird als neutraler Funktionsträger („langweilig“) wahrgenommen.

Sprachsynthese für rational-kognitive Inhalte

Nur für wenige Formate kann dies sinnvoll sein. Beispielsweise bei reinen Musikabspielstrecken. Oder bei extrem nüchternen (rational-kognitiven) Nachrichten oder Nachrichtensendern. Hier erwartet der Rezipient zunächst keine menschliche Einordnung, keine Wissensvermittlung, keine Persönlichkeit, sondern nur die Nennung reiner Fakten (Station, Titel, Anmoderation, Nachricht, Uhrzeit). Um diesen Aspekt noch ein wenig humoristisch zu beleuchten: Zahlreiche Nachrichtensprecher der öffentlich-rechtlichen Anstalten waren und sind vermutlich die frühe Vorhut einer gut gebauten Sprachsynthese. Insofern könnte Sprachsynthese in einigen Jahren nutzbare Lösungen anbieten.

Hörerbindung durch kommunikative Kompetenz

Doch echte Moderation – und damit dauerhafte Hörerbindung – muss deutlich mehr leisten. Bei der Beurteilung von Moderation hat sich im professionellen Bereich die Evaluation nach formalen, inhaltlichen und kommunikativen Kriterien durchgesetzt. Die Begriffe „formal“, „inhaltlich“ und„ kommunikativ“ lassen sich am leichtesten anhand eines Beispiels erklären. Ein Paketdienst-Fahrer benötigt zur Ausübung seines Berufes einen Führerschein (formal). Er sollte zudem die Gesetze und Abläufe seines Unternehmens kennen, die Routen selber und sinnvoll bestimmen können, die Kunden korrekt bedienen (inhaltlich). Wenn unser Fahrer nun auch noch ein gesundes, möglicherweise von Sympathie getragenes Verhältnis zum Endkunden aufbaut, durch seine Persönlichkeit punktet, dann wechselt der Kunde mit geringer Wahrscheinlichkeit zu einem Mitbewerber (kommunikativ). Eine wirklich gute Moderation punktet vor allem im kommunikativen Bereich. Gute Moderatoren schreiben Fremdtexte immer um– sonst wirken sie unpersönlich, hölzern und statisch. Wer als Moderator nur formale Vorgaben erfüllt oder zu glatt wirkt, der klingt eben sehr schnell austauschbar, wenig facettenreich. So wurden seit Mitte der 80er Jahre im wahren Leben ganze Generationen von Moderatoren (oder besser: klischeehafte DJs) erzogen. Die Sprachsynthese wäre letztlich die Fortführung dieses Trends. Doch eine Abkehr von der DJAnonymität ist bereits erfolgt.

Radio ist Gefühlsmanagement

Radio ist häufig geschicktes Gefühlsmanagement. Das ist nur möglich, wenn ich mich als Moderator auch wohl fühlen kann und darf. Authentische Moderationen sind selten auf das Wort vorbereitet. Die Gesamtchronologie und der Ablauf stehen natürlich fest – alles andere wäre fahrlässig. Doch in diesem Rahmen sollten die Moderatoren ihre eigenen Konzeptionen individuell durchleben. Also in eine simulierte Unterhaltung zwischen zwei Menschen eintauchen. Denn erst kleine Versprecher, Menschlichkeiten und Pannen machen die Darbietung glaubwürdig.

Erfolgreich gegen automatisierte Inhalte

Das Radio der Zukunft wird vermutlich durch Community, intensiven Hörerkontakt, Talk und Informationen geprägt sein. Nein, nicht nach dem Muster deutscher Inforadios. US-Radios gehen seit Jahren konsequent einen wirklich hörernahen Weg – und haben sich geschickt positioniert. In zahlreichen US-Märkten nehmen Talkradios die Spitzenpositionen ein – über die Zielgruppen hinweg. Sie positionieren sich klar gegen Itunes, Ipod und andere automatisierte Contents. Viele Programm-Macher im Ausland haben erkannt: Wer Personalitys besitzt, gewinnt die Schlacht. US-Programmdirektoren wissen: Musik spielen oder Claims nennen können alle – herausragende und konsequent aufgebaute Namen punkten über Jahre. Das ist Markenpflege jenseits der immergleichen Superhits und einem Claim mit maximaler Vorhersehbarkeit.

Sammler-Modell mit Zukunft

Talk gehört vermutlich zu den so genannten Sammler-Modellen. Ihnen sagen Wirtschaftsforscher eine erfolgreiche Zukunft voraus. Das Prinzip solcher Geschäftsmodelle: Nutze die Arbeit und den Content Dritter. Bündele fremde Inhalte, mache sie nutzbar. Ernte die Früchte des Kollektivs. Geschäftsmodelle der Globalisierung basieren auf der Arbeit anderer Menschen. Auf dieser Basis haben Google, YouTube & Co eine unvergleichliche Börsenstory geschaffen. Talk macht dies nicht anders, bündelt Meinungen, Strömungen, Inhalte. Der Einzelne wird zum bloßen Zuträger. Die Macht liegt beim Ansammler, beim Aggregator. Öffentliche Plätze haben ihre zentrale Kommunikationsfunktion eingebüßt. Die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums schreitet weiter voran – weltweit. Freie Meinungsäußerung im vom Sicherheitsdienst überwachten Einkaufszentrum kommt vermutlich schnell an ihre Grenzen. Der Freiraum des Einzelnen wird immer enger. Hier entsteht eine Nische für Personen des Vertrauens („persons of trust“) – Moderatoren mit Haltung und Macken eben. Talkradio bietet Raum für Meinung, schafft eine Kommunikationspipeline für jeden Hörer. Hier kann „der kleine Mann“ noch zu Wort kommen und „denen da oben“ mal seine Meinung sagen. Talkradio ist öffentlich-rechtlich wegen seiner demokratischen Grundhaltung. Talkradio ist privatrechtlich aufgrund seiner geringen Kosten. Talk ist ein Zukunftsmodell. Spätestens die Digitalisierung wird den Weg für eine Talk- Entwicklung ebnen. Im Markt ist kein Platz mehr für weitere Claim- und Superhitradios. Talk ist eine echte Nische. Talkformate brauchen echte Moderatoren.

Die Seele guter Radioformate

Die Zukunft des Radios liegt in seiner Vergangenheit. Die technischen Verbreitungsformen des Radios werden sich bald ändern. Doch Menschen mit Herz, Verstand und Seele bleiben der Kern guter Formate. Zumindest hoffe ich das.

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Patrick Lynen