Serie: Die Renaissance der Radio-Personalities (Teil 2)
Personality Radio kommt wieder in Mode. Vielerorts ist man auf der Suche nach Moderatoren mit persönlichem Profil und größerer Unterscheidbarkeit. Denn die sorgen langfristig auch für ein schärferes Image des Senders und – so hoffen die Radiomacher – auch für mehr Nennungen bei der Medien-Analyse. RADIOSZENE sprach mit Patrick Lynen, der sich seit über 20 Jahren als On Air-Personality einen Namen gemacht hat.
RADIOSZENE: Als Moderationscoach kommen Sie ja sehr häufig in Kontakt mit potentiellem Nachwuchs für Radio-Personalities. Fällt es der neuen Generation heutzutage schwerer, in Deutschland ihre Persönlichkeit zu entwickeln oder gibt es einfach zu wenige Talente?
Lynen: Im Grunde haben neue Talente kaum eine Chance zur Entfaltung. Es gibt zu wenige Plätze, auf denen sie sich wirklich ausprobieren können. Früher hat man die Neulinge ja in die Nacht geschickt. Und das Ergebnis war erstmal egal. Heute gibt es keine Möglichkeiten mehr im Programm, keine Plätze mehr, auf denen man sich finden kann, weil alles durchoptimiert ist. Und dann kommen im schlimmsten Falle auch noch schlechte Trainer, die nie moderiert haben und bringen Leuten, die es noch nicht können, bei, wie man angeblich moderiert. Daraus entsteht eine schreckliche Melange. Sehr fix stehen dann auch die Controller aus der Radiostation in der Reihe, die jede Sendung sofort an höchsten Maßstäben messen. Letzteres ist erstmal verständlich. Aber – und das ist auch die Wahrheit, damit ist Entwicklung einer wirklich individuellen Personality gestoppt. Und egal wo du hinfährst, die talentierten Leute leiden natürlich sehr unter dieser überkontrollierten, überoptimierten, keimfreien Art.
RADIOSZENE: Aber es gibt doch noch Personalities in Deutschland!?
Lynen: Wenn ich mal ganz ehrlich bin, dann sind das meist Leute, die in den 8oern und 90ern groß geworden sind und sich einfach noch langsam entwickeln durften. Personalities sind für mich Leute, die alles ein wenig anders moderieren, die eine Botschaft haben, die man sich länger merkt als die Moderation dauert. Es gibt sie in Deutschland nur schlicht nicht mehr. Es gibt aufstrebende, mutige Leute wie Amok Alex, die aber auch keinen Platz in einem Major-Sender finden, weil er den Verantwortlichen dort zu gefährlich ist. „Amok“ klingt böse und ist eben auch ein bisschen kantig. Oder Frank Wallitzek – man kann von ihm halten, was man will – das ist ein witziger, mutiger Moderator, nur den lassen sie jetzt bei Radio NRW für ein Minihonorar in der Nacht senden. Junge Talente kriegen heutzutage keinen Fuß auf die Erde, weil keiner sich mehr was traut. Und weil das Privatradio häufig sauschlecht bezahlt. Wenn man die Fahrtkosten, Steuern und Sozialabgaben abzieht, dann verdient die Putzfrau in einer Großstadt wie Köln mehr Geld (schwarz) als Kolleginnen und Kollegen beim Radio. Es gibt natürlich immer zarte, keimende Pflänzchen, nur keimen die halt hinter der Garage und unterm Vordach.
RADIOSZENE: Aber wo sollen sie denn herkommen, ist Internetradio vielleicht ein neuer Nährboden für Personalities?
Lynen: Internetradio ist eine gigantische Nische, in der man alles machen kann. Es gibt mittlerweile ca. 2.000 Internet-Radios allein in Deutschland. Aber als Moderator beim Internetradio sendet man halt auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ich vergleiche es mal mit meiner Vergangenheit. Wir haben unter lausigen Umständen angefangen, eben bei Piratensendern auf UKW. Wir haben Sachen gemacht, die man heute nicht mehr senden könnte. Das kann man im Internetradio auch machen. Das ist ein wunderbares Gewächshaus.
Nur dann geht es ja los. Wenn Du dann raus möchtest aus Deinem Lerngetto, aus Deinem „Nicht-Wahrgenommenwerden-Ghetto“, hinein in eine professionelle Umgebung, dann gibt Dir trotzdem keiner eine Fläche für mutige Moderationen. Auch wenn Du vielleicht genial bist, Dir die wildesten Einfälle verkneifst, Dich offenbarst, eine eigene Meinung hast, wenn Du versuchst, eine Beziehungsebene zum Hörer aufzubauen, werden alle sagen, Du bist ja zu persönlich, zu klar positioniert, zu schroff, zu polarisierend oder auf Dich selbst bezogen. Stattdessen wollen viele Chefs nur diese ganzen „moodboard“-Floskeln wie „Schön, dass Sie bei uns sind!“ oder „Wenn Sie gerade aus der Haustür gehen, dann werden sie doch gerade sicher…“. Das ist im Grunde verlogener Scheißdreck, weil das ja keine wirkliche Beziehung aufbaut, sondern so eine Scheinwirklichkeit vorgaukelt. Und an der Stelle werden die jungen Talente wieder vor die Mauer laufen. Ich habe mit dem derzeitigen Formatradio in Bezug auf Personality weitgehend abgeschlossen. Das gilt ganz ausdrücklich auch für viele Popwellen der ARD wie NDR2, N-JOY oder JUMP – weil die sich im Grunde genommen mit der Gebührenkohle derart prostituieren, dass da für echte Personality kein Platz mehr ist.
RADIOSZENE: …zum Beispiel?
Lynen: Sie haben beispielsweise Elmar Hörig und viele andere Persönlichkeiten entsorgt, sie haben jeden entsorgt, der bei diesen Sendern noch irgendwie einen richtigen Namen und eine Botschaft hatte, weil sie ihnen zu unbequem waren. Solche Personalities haben auf einer Konferenz eben auch schon mal gesagt: „Das finde ich Scheiße, was Ihr hier tut“. Oder sie haben mal eine wirklich witzige Pointe gesendet. Oder standen halt nicht für die bunte Superhit-Welt. Das kommt in dieser ganzen Konformdenkerwelt nicht besonders gut an. Aber gerade ein öffentlich-rechtliches System MUSS sich doch Querdenker leisten, die in demokratischer Grundhaltung Wahrheiten aussprechen. Kein öffentlich-rechtliches System in der ganzen Welt hat seine populären Wellen derart dem Privatfunk-Standard angepasst wie bei uns in Deutschland.
RADIOSZENE: Also, liegt es an der Führung, an den Programmchefs und Beratern, dass die Personality-Entwicklung gebremst wird?
Lynen: Hier möchte ich jeden Einzelnen erstmal in Schutz nehmen. Ernsthaft. Der Programmchef hat einen Zeitvertrag. Der Berater braucht schnellen Erfolg – im Zweifel über Hütchenspiele und noch geringere Rotation. Da kommt alles zusammen: z.B. auch die Gesellschafter, die immer mehr Rendite fordern. Es ist im Grunde wie bei der gesamten Globalisierung: die Firma ist gezwungen, mehr Umsatz zu machen, weil die Aktionäre oder Gesellschafter wöchentlich lauter schreien. Wenn die dann mehr Umsatz gemacht haben, dann wird der Druck wird noch mal erhöht, dann kommen die Berater und im Grunde wird die Nummer irgendwie kaputt gemacht. Ich nenne es gerne „Globalisierung Light“, auch wenn es beim Radio (noch) nicht wirklich ein Globalisierungsprozess ist. Aber diese Um-jeden-Preis-Optimierungs- und Um-jeden-Preis-noch-mal-eine-Stufe-Weiterdrehen-Mentalität sorgt dafür, dass Produkte kaputt gehen und verwechselbar werden.
Bei öffentlich-rechtlichen Anbietern gibt es in einigen Funkhäusern den irrsinnigen Glauben, dass man vor allem über die Massenakzeptanz und die Quote politisch überleben wird. Da wurde soviel kaputt gemacht in den letzten 5-10 Jahren.
Manchmal habe ich fast das Gefühl, dass die ganzen Hütchenspiele-Aktionen mit Mehrwertdiensten und ständigen Hörerreisen der Torschlusspanik in den Chefetagen geschuldet sind. Alle wissen um die Gefahr der revolutionären Veränderung im Hörfunkmarkt. Aber statt auf zukunftsweisende Konzepte zu setzen, wird in der Finalphase noch mal alles rausgequetscht. Ich übertreibe hier sicher an manchen Stellen maßlos, aber in der Übertreibung erkennt man ja gerne mal die Wahrheit. Die Amerikaner nennen das gerne „Rat Race“ – Ratten auf der Flucht.
Die Leute ganz an der Spitze schreien nur noch „Mehr, mehr, mehr!“: noch mehr Quote und Umsatz mit noch weniger Budget. Da werden beim Privatfunk dann lieber Praktikanten eingestellt statt eine Personality. Und den Rest erledigt dann das Voicetracking. So ist die Wirklichkeit. Man darf sich da, glaube ich, auch nicht zu lange belügen. Radio ist im Grunde ein „small business“ geworden. Es mag sein, dass in Relation noch richtig Geld umsetzt wird. Aber erstmals sind die Radio-Werbeumsätze im vergangenen Jahr vom Internet überholt worden. Radio ist in zehn Jahren in der klassischen Form tot und ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, ob es nicht das Beste für das Medium ist, denn das, was da momentan geschieht, ist oft zum Weinen.
Da lobe ich mir wirklich aufrechte Wortwellen wie WDR5. Oder Jugendsender wie Fritz. Programme wie Bayern 5 oder die neue Ausrichtung bei Sputnik. Hier kommt einem nicht alle 2 Minuten irgendein billiger August aus dem Lautsprecher entgegen. Und so sehr ich das Privatfunk-Gesetz der NRW-SPD am Anfang verflucht habe; es hat den NRW-Privatfunk vor den schlimmsten Auswüchsen der Hütchenspielerei und Claimerei bewahrt.
RADIOSZENE: Bleiben wir in NRW. Jetzt gibt es aber immer mehr Sender, die sich für Personalities entscheiden. WDR 2 zum Beispiel hat Matuschik und Bug eingekauft…
Lynen: Matthias Matuschik halte ich für einen der größten deutschen Radio-Entertainer. Er wirkt im WDR 2-Umfeld aber leider noch neutralisiert. Seine ganze Wirkung entfaltet sich nicht. Matthias hat bei anderen Sendern wirklich grandiose Sendungen gemacht. Vermutlich muss er sich erstmal freischwimmen.
Thomas Bug hielt ich schon immer schon für überbewertet. Er ist im Grunde jemand, der nur über Ironie eine Wirkung erzielt. Der hat auch keine merkfähige Stimme. Nur über diesen ständigen ironischen Bruch erzeugt er Wirkung. Nimm ihm mal für zwei Sendestunden seine Ironie und er existiert nicht mehr als Radio-Persönlichkeit. Aber er ist natürlich trotzdem ein sehr guter Moderator.
Die Comedies und Beiträge, die beide bei WDR 2 am Samstag machen, sind ja nicht eine Sekunde lang lustig oder besonders. Das heißt, auch da nimmt man eine Personality, setzt sie in so eine Art „keimfreies und kontrollierbares Wochenend-Umfeld“ und dann wirken die natürlich immer noch viel besser als andere, aber richtiges Personality-Radio ist das ja beim besten Willen nicht. Mutig sein hieße, dass man wirklich auch mal Sachen ausprobiert, auch mal Haltung zeigt, Konventionen bricht und „gegen den Strich bürstet“. Aber das wäre kaum denkbar. Die Entwicklung mit Bug & Matuschik bei WDR 2 wirkt noch etwas gewollt, nun haben sie halt eine schöne Form von „weichgespülten Kuschel-Personalities“. Und wenn dann alle 2 Songs die große Werbetrommel gerührt wird („Bug am Samstag – nur bei WDR2“), dann wirkt das in einem sonst sehr rationalen Info-Umfeld schon mal befremdlich.
RADIOSZENE: Hatten Sie bestimmte Vorbilder, an denen Sie sich orientiert haben?
Lynen: Elmar Hörig war einfach ein absoluter Tabubrecher. Das ist für mich bis heute die schrägste, professionellste, coolste und kantigste Personality von allen. Und die Leute lieben ihn! Elmi hat sich auch bis zum Schluss (Elmar Hörig hat Ende März Radio Regenbogen verlassen, Anm. der Red.) nicht verbiegen lassen. Der hat sich eben nicht immer alles sagen lassen. Deswegen ist er heute DER Elmi.
Howard Stern war früher mal ein Vorbild, aber der hat mittlerweile leider seinen Zenit überschritten, weil es ja im Satellitenradio nur noch um Porno und Geschlechtsteile geht. Es war früher anarchischer, rebellierender, vielfältiger, intelligenter, philosophischer. Aber in Deutschland wüsste ich jetzt aktuell keine Vorbilder mehr im Popradio, auch im Inforadio sehe ich nicht mehr viele. Bei fritz und selten bei 1Live gibt es noch ein paar grandiose Figuren. Aber sonst, wo sind sie?
RADIOSZENE: Was ist mit den lebenden Morgenshow-Legenden John Ment, Arno Müller, Wirbitzki und Zeus usw.?
Lynen: Ja klar, das sind Personalities, aber bei über 300 deutschen Radiosendern kommen wir vielleicht auf fünf, sechs, vielleicht sieben ECHTE Personalities?
RADIOSZENE: Ja, aber wer ist denn für Sie dann eine echte Personality?
Lynen: Eine Personality ist für mich jemand, der wirklich auch mal gegen den Strich bürstet. Jemand wie Hans Blomberg, auch genannt „Der Morgenhans“ bei bigFM. Eine Personality ist jemand, der immer professionell ist, aber auch mal Sachen ausprobiert, die die gesamte Redaktion grundsätzlich ablehnt. Eine Personality hat eine eigene Duftmarke. Im TV heißen solche Leute Hape Kerkeling. In Radio-Deutschland sind es eben die genannten Kollegen.
Eine Personality hat immer so ein Grundchaos in sich, um Sachen auszuprobieren, die erst mal als „Geht nicht“, abgetan werden. Eine Personality hat auf jeden Fall eine polarisierende Wirkung in der Hörerschaft, ansonsten ist es keine Personality. Und an der Stelle fällt mir immer das Zitat des Medienforschers aus dem Film „Private Parts“ mit Howard Stern ein: „Die, die ihn mögen hören ihn 70 Minuten lang. Die, die ihn hassen sogar 120 Minuten. Unglaublich…“
Vergleichen wir es doch mal mit der Popmusik. Jeder gute Popmusiker hat sein Publikum. Die einen mögen ihn, die anderen eben nicht. Das ist bei Grönemeyer, Peter Maffay, Xavier Naidoo und Westernhagen ja nicht anders. Die einen finden Grönemeyer total Scheiße und die anderen mögen ihn, aber er hat ein extrem loyales Publikum. Grönemeyer war einfach mutig, weil er immer in SEINER Weise gesungen hat. Auch wenn alle gesagt haben „so darf, so kann man das nicht“. Auch die Texte: „viel zu intellektueller Scheiß“. Aber genau deswegen hat er es geschafft: mit jedem Album hat er sich noch mal ein bisschen neu erfunden und einen neuen Dreh gefunden. Ich finde, eine Radio-Personality muss sein wie Grönemeyer, die muss keine tolle Stimme haben, aber auf jedem Album einen Song drauf haben, wo man denkt: „Meine Fresse, ist das grandios!“. Und das überzeigt irgendwann sogar die größten Kritiker.
Übertragen auf die Radiomoderation der letzten Jahre würde das für die Popmusik bedeuten, dass bei jedem Song eine optimale Mischung aus Maffay, Grönemeyer, Naidoo und Westernhagen singt. Der „Grönewesternmaffay“ sozusagen. Grönemeyer hätte als Moderator im „modernen“ Formatradio keine 4 Sendewochen überlebt.
RADIOSZENE: Da hört man von Radioberatern oft das Gegenteil: eine gute Stimme sei Grundvoraussetzung, um beim Radio zu arbeiten.
Lynen: Na, eine gute Stimme hat noch keinem Moderator geschadet. Es gibt Berater, die waren unter den Wolken, es gibt Berater, die waren in den Wolken und es gibt welche, die waren über den Wolken. Selbst wenn sie kommerziell erfolgreiche Berater waren, waren sie inhaltlich häufig nie über den Wolken, sondern haben im Zweifelsfall bei irgendeinem bayrischen Lokalradio ihr Rüstzeug erworben und dieses „Wissen“ dann auf ganz Radiodeutschland übertragen. Ein Muster für alle Sender. Solche Typen mit diesem Horizont sagen dann, ein Moderator muss vor allem eine gute Stimme haben. Na super! Viel wichtiger ist: ein Moderator muss inhaltlich brillant sein, muss auch witzig sein, muss bei Bedarf super ernst sein können, ein tolles Interview führen können, mal konfrontativ sein, muss kommunizieren können, muss auf der anderen Seite die Leute hypnotisieren, magnetisieren. Das kannst du mit einer schönen Stimme vielleicht für zwei Minuten schaffen – aber nicht für drei Jahre. Da muss mehr passieren, da muss es sozusagen eine virtuelle Bindung geben. Du als Hörer auf der anderen Seite musst das Gefühl haben, da spricht jemand nur mit mir. Er oder sie spricht für mich. Das ist dann eine Personality aus meiner Sicht.
RADIOSZENE: Ist Radio überhaupt noch attraktiv für junge Talente oder dient es nur als Durchlauferhitzer für die TV-Branche?
Lynen: Radio ist nicht mehr Trendsetter, sondern nur noch Trendfollower, das wird kaum einer leugnen wollen. Auch weil es als Impulsgeber für die Popkultur nicht mehr taugt. Auch weil es sich selbst nicht mehr ausreichend erneuert, weil es anarchische, vernetzte Gedanken & Grundtendenzen kampflos an das Internet abgegeben hat. Und wenn ich als junges Talent im Radio keine Vision mehr finde, dann lohnt es sich allemal noch als Durchlauferhitzer, um schnell zum Fernsehen zu kommen. Die guten Leute im Radio finden ja auch zeitnah ihren Weg ins Fernsehen. Ich glaube, so ist das mit dem Radio im Jahr 2007: Durchlauferhitzer fürs Fernsehen, eine geringe Eintrittsbarriere für Neulinge, super Chance Medien-Skills zu erwerben.
RADIOSZENE: Manche kommen aber auch wieder zurück, wie Koschwitz oder Ulmen…
Lynen: …aber nur weil gerade kein TV-Job ansteht. Wenn Koschi oder Ulmen eine Fernsehshow hätten, würden sie nicht zur gleichen Zeit Radio machen. Aus der Nichtbeschäftigung beim Fernsehen heraus macht man dann auch wieder mal eine Radioshow. Ohne Zweifel sind beide sehr großartig. Radio ist für Thomas natürlich absolute Leidenschaft, aber wenn er für mehr Geld eine Fernsehshow machen könnte, würde er es sicher tun. Und ich kann es sogar verstehen.
RADIOSZENE: Wie schafft man als Radiosender die richtige Umgebung, damit sich mehr Personalities entwickeln?
Lynen: Ich halte es da immer mit dem alten SWF3-Chef Stockinger. SWF3 war nicht ohne Grund so genial und einzigartig. Das Geheimnis lag und liegt in einer Mischung aus Format und Personality. Stockinger hat den Spielfeldrand für alle Beteiligten, auch für die Topspieler, extrem klar eingegrenzt. Der hat gesagt: „Hier ist die weiße Linie, da darfst Du nicht drüber hinaus. Und wenn Du darüber hinausläufst, dann nur einmal pro Spiel, weil ansonsten hau ich Dir die Finger ab. Oder der Rundfunkrat tut es.“ Das hat jeder erstmal begriffen. So, jetzt hat man trotzdem nicht den ganzen Tag das Spielfeld ausgenützt, sondern viele Spieler haben halt nur in der Mitte gespielt, so ein paar klassische Laufwege. Ein paar haben aber diese Grenzen ausgelotet. Jetzt ist aber bei einem normal formatierten – sowohl öffentlich-rechtlichen als auch privaten – Popradio das Spielfeld mittlerweile nicht mehr so groß wie ein Fußballfeld, sondern nur noch wie fünf Handtücher. Und allen hat man gesagt: „Ihr dürft diese fünf Handtücher nicht mehr verlassen.“ Damit passiert im Grunde nichts Spannendes mehr. D.h., du wirst keine Laufwege mehr erleben, die Leute faszinieren, mit einer Attacke, mit einem Gewaltschuss, wo du sagst: „Wow!“, sondern die stehen alle auf diesen fünf Handtüchern wie in einer Legebatterie nebeneinander und legen täglich ein Ei.
Du brauchst einfach einen coolen Chef, der Dir als Moderator ein großes Spielfeld gibt, auch nicht Schiss hat, dass ihm oder ihr a) die Gremien oder b) die Gesellschafter die Geschlechtsteile abreißen. Aber da sind wir schon beim nächsten Problem: Wo kannst du denn als Geschäftsführer oder Programmdirektor noch so sein? Wo kannst du denn überhaupt noch hingehen und so eine Politik fahren? Im Öffentlich-Rechtlichen nicht mehr und im Privaten auch nicht mehr. Da sind wir auch schon wieder Schach matt. Das ist der Grund, warum ich sage, alle in dem System sind angeschissen. Die Gesellschafter, die sind ja im Grunde auch nur Vertreter irgendeiner größeren Gruppe. Da sagt der Gesellschaftervertreter von oben gezwungen: „Geh zu Deiner Aufsichtsratssitzung beim Radio und bring mehr Geld mit!“, der zwingt seinen Geschäftsführer beim Radio: „Mach mehr Geld daraus!“, der zwingt seinen Programmchef: „Mach mir ein erfolgreicheres Programm!“, Der zwingt seine Moderatoren: „Seid noch produktorientierter, seid noch stromlinienförmiger!“, damit hier nur ja nix schief geht. Das ist eine unglaubliche Kette von Angst, alle haben den ganzen Tag die Hose voll. Und wenn sie sich bis abends nicht in die Hose gemacht haben, gehen sie vermeintlich glücklich nach Hause. Vielleicht übertreibe ich das ja, aber im Grunde ist es das Modell.
RADIOSZENE: Kann man Personality Radio denn in Seminaren lernen?
Lynen: Nein, ich glaube nicht. Man braucht einen Mentor. Also ich hatte in meinem Leben Gott sei Dank immer die richtigen Mentoren. Ich hatte in Luxemburg Jochen Pützenbacher, eine – wie ich finde – der großartigsten Radio-Personalities, die es jemals gab. Menschen lernen über Beobachtung und über unauffällige Betreuung. Der zweite Mentor war Peter Stockinger von SWF3. Und dann habe ich beim gerade erst verstorbenen Richard Mahkorn sehr viel über Kommunikation gelernt. Oft nur durch Beobachtung. Du brauchst jemanden, der dich in einem sicheren Umfeld betreut, fördert und coacht, aber nicht in einer Weise coacht, wie man das heutzutage oft so hat, dass da täglich Aircheck ist und das für zwei Stunden, wo man alle Fehler ausmerzt. Nein, man braucht jemanden, der Potentiale aufzeigt. Das ist entscheidend. Hier machen auch viele sogenannte „Airchecker“ Fehler. Sie zeigen nur Fehler auf, aber keinen Weg für eine individuelle berufliche Entwicklung.
Du müsstest dir eine Ansammlung von absoluten Freaks zusammensuchen, wo man sagt, die sehen so aus, dass man sie eigentlich nicht auf die Menschheit loslassen kann, die haben im Zweifelsfalle auch ein schlechtes ABI, Mundgeruch, aber eine sehr gute Allgemeinbildung und daraus mache ich jetzt echte Radio-Personalities. Ich glaube, das würde gehen – mit sehr viel Gleichmut. Aber auch nur bei einem Sender, der nicht permanent der Excel-Tabelle huldigt, der wirklich innovativ sein möchte, und ein Umfeld in dem nicht die Chefs alle zwei Minuten schreien: „Mehr Erfolg, mehr Quote, weniger Wort!“, dann würde das mit Sicherheit gehen. Wir reden über phantasievolle Zustände, die es derzeit nicht gibt. Selbst bei innovativen Sendern wie 1Live hat sich der Grunge der letzten Jahre ja leider aus dem Programm verabschiedet.
RADIOSZENE: Gibt es also keine Renaissance der Radio-Personalities?
Lynen: Ich glaube, wenn es überhaupt noch einmal eine wirkliche Rückbesinnung auf Personality gibt, dann mit der Digitalisierung, wo man auf neue Digitalfrequenzen nicht einfach noch einmal Superhit-Formate aufschalten kann. Wenn sich erst mal das komplette Musiksegment in die On Demand-Abteilung verlegt hat und Musik jederzeit überall verfügbar ist, braucht man keinen Radiosender mehr, der das irgendwie als 80er/90er anpreist. Wenn da der Markt gesättigt ist, wird man neue Nischen finden müssen wie z.B. das Talkformat im Radio – gerne auch mit Bild auf dem Handy oder parallel auf anderen Ausspielwegen. Dann könnte ich mir vorstellen, wird ECHTE Personality noch einmal ein Thema werden.
RADIOSZENE: Sie haben jetzt mehrere Wochen eine eigene Personality-Show namens „Neonox“ moderiert. Ist das Ihr Traumformat, Talkradio?
Lynen: Ja. Die späte Arbeitszeit ist sicher nicht mein Traum. Aber das nehme ich in Kauf als Flucht vor Formatuhren, vor wiederkehrenden Superhits und Jingles, die ich auch nicht mehr hören kann. Ich gehe hinein in die Nacht, hinein in eine witzige Welt von Menschen, die Stories zu erzählen haben, die auch manchmal absurd sind, die oft sehr intelligent sind, die manchmal einfach nur witzig sind, ohne auf die Uhr zu gucken. Da kann man auch mal ein Gespräch führen, das länger als zweieinhalb Minuten dauert. Und die Resonanz ist unglaublich. Menschen öffnen ihr Herz und ihre Seele. In welchem Radioumfeld ist das so überhaupt noch möglich? Da kann ich auch einfach mal was ausprobieren, z.B. mit einem Radiosender in Neuseeland telefonieren. Da landet man dann live (!) in der Morgensendung und der Host sagt: „Guten Morgen, Sydney. Gerade hat mich ein Kollege aus Deutschland angerufen. Und wir sind beide jetzt live on air! Wow! Was machst Du gerade?“. Das macht Spaß, das ist für mich auch wieder Radio, da passiert in jedem Moment etwas Unerwartetes. Und nebenbei ist das ein geiles Gefühl, beim Marktführer in Sydney oder Auckland die Leute mit aufzuwecken.
RADIOSZENE: Könnte Talkradio nicht auch 24 Stunden am Tag funktionieren?
Lynen: Mit Sicherheit! Und vor allem die öffentlich-rechtlichen Häuser sollten es ausprobieren. Aber wir sind leider noch nicht da. Talkradio ist öffentlich-rechtlich wegen seiner implizierten Meinungsfreiheit und der demokratischen Grundhaltung. Und es ist privatrechtlich wegen seiner sehr geringen Kosten.
RADIOSZENE: In Deutschland kommen immer alle mit dem Killerargument „Newstalk 93,6 Berlin“. Das Projekt ist ja seinerzeit völlig missglückt. Funktioniert Talkradio in Deutschland tatsächlich nicht?
Lynen: Das entspricht exakt der Vision deutscher Radiomacher. Nach diesem Argumentationsmuster müsste man auch sagen: Als die ersten Flugzeuge erfunden wurde, ist auch mal einer auf die Fresse gefallen und hat seinen Prototypen zerstört. Wenn Lindbergh oder die Gebrüder Wright genauso gedacht hätten wie heute viele Radiomacher, dann würde es heute keine Flugverbindung nach Australien geben, was ich sehr bedauern würde.
RADIOSZENE: Zum Schluss noch ein Tipp für Nachwuchsmoderatoren…
Lynen: Wenn man zu einer Personality werden will, sollte man das unbedingt in einem nicht-kaputt-optimierten oder zu stark kontrollierten Umfeld versuchen: beim Piraten-, Studenten- oder Bürgerradio, solange es das noch gibt. Und ansonsten kann ich ehrlich gesagt niemandem empfehlen, der wirklich eine Persönlichkeit, eine kantige und erkennbare Persönlichkeit, werden will, zum durchformatierten Privatradio oder ähnlich gemachten ARD-Wellen zu gehen. Es gibt da schlicht wenig Bedarf für eigene Ideen und Gedanken.
RADIOSZENE: Also besser gleich zum Fernsehen?
Lynen: Es ist das gleiche Übel, da stinkt es auch. Im Grunde ist auch da der Optimierungsprozess längst auf dem Weg. Mittlerweile bin ich soweit zu sagen, Leute tut etwas Werthaltiges, um diese Welt ein bisschen besser zu machen, um sie vielleicht irgendwie zu verbessern. Macht irgendetwas, wo Ihr Euch in zwanzig Jahren noch selber im Spiegel anschauen könnt und sagt, das war cool, das war eine gute Geschichte. Damals war das für uns Radio, ob das heute für Leute, die brennen, noch Radio ist, weiß ich nicht. Es ist wahrscheinlich eher das Internet oder Podcasting. Oder man baut einen Bio-Bauernhof auf und zeigt der Lebensmittel-Mafia den Mittelfinger. Der Zauber des Radios ist ein wenig verflogen. Hoffentlich kommt er noch mal zurück.
RADIOSZENE: Herr Lynen, vielen Dank für das Gespräch.