In meinem Freundeskreis gibt es Menschen, die haben das letzte Mal im Jahre 2000 Aktien oder Aktienfonds gekauft. Seitdem liegt ihre persönliche Anlagestrategie wieder auf Linie mit der Oma – Sparbücher und Garantie-Pensionsverträge sind an der Tagesordnung. So mancher freut sich geradezu, in Zeiten turbulenter Kapitalmärkte zu erwähnen, dass er bis ins Jahr 2006 gebraucht hat, um wieder die Verluste der Börsenblase wettzumachen. Motto: „Diese Zeug kommt mir nicht mehr ins Haus.“
Ich will hier nicht behaupten, dass auch ein signifikanter Teil deutscher Radiomacherinnen und Radiomacher im Jahre 2000 traumatisiert wurden, aber ähnlich wie manche Menschen mittlerweile mit Aktien umgehen, so abgehakt ist auch das Thema digitales Radio bei manchen. Wurden 2000 noch – kommerziell im Nachhinein sicherlich nicht gerade lukrative – Riesenprojekte wie webradio.de oder die AOL-Radios gefeiert, hat sich seitdem eine – nennen wir sie defensive – Haltung gegenüber digitalen Verbreitungswegen manifestiert:
DAB? Tot!
Radio auf dem Handy? Zu teuer!
Internet-Radio? Wer trägt schon seinen Computer mit sich rum!
Etc.
Und so manche Zahlen geben dieser Denkweise durchaus recht. Es gibt relativ wenige Studien, die z.B. den Online-Radiokonsum der Deutschen detailliert ausweisen, kaum verlässliche Daten zur Reichweite einzelner Online-Radios, wenig zum Thema Radio auf dem Handy.
Doch: Wer ist hier die Henne, wer das Ei?
Schaut man sich die Entwicklung in anderen Ländern wie den USA oder Großbritannien an, zeigt sich dort, dass das große Umdenken der Radioveranstalter erst dann begonnen hat, als sowohl interner Research als auch die offiziellen Reichweitenmessungen begannen, Nicht-UKW-Hören detaillierter zu untersuchen und dabei feststellten, dass mittlerweile ein deutlich zweistelliger Prozentsatz Radio über andere Wege konsumiert als über das klassische UKW.
Umgekehrt bedeutet das: Wahrscheinlich ist der digitale Radiokonsum auch in Deutschland höher als in der (radio-)öffentlichen Wahrnehmung. Aus dem einfachen Grund, dass er bisher nicht konsequent und detailliert untersucht wurde. Wenn MA und interner Research dies ändern würden, wären die zukunftsentscheidenden Themen sofort auf den Schreibtischen der Entscheider. Der Zukunftsfähigkeit von Radio würde das nicht gerade schaden.
Ich denke, es ist Zeit, die gemessene Realität an die Realität anzupassen.
Links:
Im Internet hört fast niemand Radio.
Wege und Formen der Radionutzung im digitalen Zeitalter.
Rajar („englische MA“) misst zum Teil seit 2002.
Arbitron („amerikanische MA“) ebenso.
Christian Schalt
(Programmdirektor KISS FM Berlin)