Es muss ein staubtrockener Moment gewesen sein, als die Manager der deutschen Traditionsfotofirma Agfa zum ersten Mal im Internet surften. Möglicherweise auf ein paar schlecht designte private Homepages, ein paar Suchbegriffe bei Yahoo oder Google, ein paar Sex-Pop-Ups weggeklickt – nein, hier droht der Fotofilmproduktion keine Gefahr.
Wenige Jahre später, am 20. Mai 2005, stellte die AgfaPhoto GmbH beim Amtsgericht Köln überraschend den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung wegen Zahlungsunfähigkeit. Man hatte schlicht den Trend zur Digitalfotografie verschlafen. Zu schwerfällig und traditionsbewusst war die Company wohl, um auf die ökonomischen Veränderungen der Zeit zu reagieren.
Die Hörfunkbranche ist da traditionell bedeutend paranoider eingestellt, vermutet hinter jeden zweiten neuen Technologie eine Konkurrenz fürs Kerngeschäft und versucht dagegenzuhalten. Man braucht nur wenig Phantasie, um sich Hörfunkmanager bei Branchentreffs vorzustellen, die mit besorgten Mienen Keynotes zum Thema „Toaster, Backofen und Co. – der neue Kampf ums Nutzungsbudget im Haushalt“ lauschen.
Wie bei so vielen psychischen Gebrechen, hat auch der Hang zum Paranoiden seine gute Seite. Indem sich die Hörfunkbranche gerne schwach- und kleinredet, folgt als sekundärer Krankheitsgewinn oft eine Boomphase der Innovation. Und so haben Radiostationen weltweit ihr Produkte auch schnell internetfest gemacht: Social Networks, Side-Channels, On demand-Funktionen gehören vielerorts zum Hörfunk-ABC des Jahres 2008.
Umgekehrt haben in den letzten Jahren unzählige Internet-Start-Ups bereits die Totenglocken fürs traditionelle Radio geläutet. Zu unflexibel, zu abwechslungsarm, zu macherlastig seien die Angebote der Sender, das Internet werde auch über das Radio hinwegfegen und das Geschäftsmodell auf den Kopf stellen: wer will noch Musik hören, die er nicht selbst ausgesucht hat? Warum sollte jemand 20 Minuten auf die nächsten Nachrichten warten, wenn diese auf anderen Webseiten sofort verfügbar sind?
Mittlerweile sind die Kassandra-Rufe leiser geworden, wenn nicht sogar verstummt. Denn die vielen neuen Player der Internetwelt beißen sich am traditionellen Hörfunk die Zähne aus. Als prominentester Vertreter der Branche bekam dies der Internetradioanbieter Pandora zu spüren, der seinem mythologischen Namensgebung nur allzu gerecht wird. Nicht nur, dass er seine internationale Verbreitung gestoppt hat, er wäre auch fast zugrunde gegangen an der Zahlung an die Verwertungsgesellschaften (im übrigen ein Betrag von 0,0019 Cent pro Hörer).
Dass die erfolgreichste deutsche Internetseite, StudiVZ, pro Jahr gerade mal 10 Millionen Umsatz macht (und 10 Millionen Euro Verlust), zeigt, wie schwer die Revolution tatsächlich ist im Internet – und rückt die ökomischen Erfolge der meisten deutschen mittelständischen Hörfunkanbieter in ein deutlich positiveres Licht.
Radio scheint weniger anfällig zu sein für eine Substitution durch internetgetriebene Angebote: Es ist gratis, mobil und bis zur Selbstverleugnung optimiert für die Bedürfnisse einer breiten Hörerschicht.
Und die Hörfunkcommunity stellt – manchmal zur ihrer eigenen Verwundung – fest, dass sie ein besseres und resistenteres Produkt hat, als viele glaubten.
Christian Schalt
(Programmdirektor KISS FM Berlin)