Bewährt, vertraut, verpennt…

Bitter Lemmer

Erstaunlich: Obwohl es eigentlich nichts Peinlicheres als einen falschen Expertentip gibt, finden sich vor jeder MA ein paar Experten, die ganz genau wissen, wie sie denn ausgeht. Diese Experten erzielen immerhin eine Trefferquote von 50 Prozent – man staune. Sie liegen damit nicht schlechter als: eine geworfene Münze, das Tsching-tschang-tschung-knobeln oder die fifty-fifty-Chance bei „Wer wird Millionär“.

Die MA ist ein simpler Realitätscheck, der den Erfolg abseits von Sympathie und Antipathie für einen Sender, ein Format oder einzelne Kollegen mißt. Die einen freuen sich, die anderen nicht. Ganz einfach.

Ebenso einfach ist die Feststellung, daß die Zahl der Radiomacher groß ist, die – auch in den Foren – noch wenige Tage vor der MA mit ihren Tips aufwarten. Das geht dann immer so, daß die Entsprechenden schön lässig einen Sendernamen in die Runde werfen und dazu ein Daumen-hoch oder Daumen-runter-Signal beimischen. Die Begründungen dazu, so es welche gibt, sind ebenso emotional wie die Tips als solche. Wie gesagt: Trefferquote 50 Prozent. Für jemanden, der entsprechend drauf ist, fühlt sich das an wie eine 99-Prozent-Trefferquote.

Die Schwierigkeiten, gefühlte und gemessene Faktoren zu unterscheiden, gehören offenbar zum Radiomachen wie die Antenne zum Empfänger. So gehört es bis zum heutigen Tag in manchen großen landesweiten Sendern zu den Marotten der Redakteure und Moderatoren, ihre Texte in MS Word zu tippen und vor dem Ablesen auf Papier auszudrucken. Ganz ernsthaft heißt es dann bei einigen Sendern – gerade großen -, das Ablesen vom Bildschirm schade der Gesundheit. Das ist natürlich schon deshalb Unsinn, weil z.B. Nachrichtenleute stündlich gerade drei Minuten das Auge Richtung Papier wenden, ansonsten aber ganztägig den Bildschirm ertragen. Daß diese letzten stündlichen drei Minuten den Unterschied ausmachen, kann niemand beweisen. Lächerlich wird dieser Einwand, wenn das stundenlange Freizeitfernsehen nach der Schicht ebenso hingenommen wird wie das ausgiebige Daddeln an X-Box oder Playstation.

Aber er wirkt, denn er kommt den Managern entgegen. Die verstehen von der Technik in der Regel nichts. Darum entscheiden sie gefühlsmäßig. Gefühlsmäßige Entscheidungen sind grundsätzlich solche Entscheidungen, die auf Sicherheit aufbauen. Sicherheit ist keine Faktizität, sondern ein Gefühl. Gefühls-Entscheidungen werden natürlich anders etikettiert – man spricht von „Erfahrungswerten“ und vom „Bewährten“. Anders gesagt: es zählt die Vergangenheit, nicht aber die Zukunft. Denn selbstverständlich gibt es nicht den geringsten Beweis dafür, daß eine neue Lösung schlechter funktionieren muß als eine alte. Kann sein, muß aber nicht.

Es gibt ein weiteres Argument, das Fortschritt behindert: „Das machen schließlich alle so.“ Na und? Diese Aussage besagt allein, daß „alle“ irgend etwas irgendwie machen, nicht aber, daß alle es richtig machen.

Nehmen wir als Beispiel die Produkte der Firma Microsoft. Die werden seit langer Zeit durchaus kritisch gesehen. Weil der Internet-Explorer aber eine Verbreitung von 80 bis 90 Prozent hat (es war schon einmal mehr), wird er in den deutschen Radiosendern landauf-landab als Standard-Browser eingesetzt, in der Regel als einzig zulässiger Browser. Dabei bieten Opera und Firefox gleich drei handfeste Vorteile: 1., die Möglichkeit, mehrere Browser-Fenster in einer Programminstanz zu öffnen („Tabbed Browsing“), was dem Überblick und dem Arbeitstempo zugute kommt; 2., ein Eingabefeld für die Google-Suche (oder eine frei bestimmbare andere Suchmaschine) in der Menüleiste, was die Suche zeitsparender gestaltet; und 3., einen Sicherheitsvorteil, der schlicht daraus resultiert, daß die anderen Browser jedenfalls derzeit eine zu geringe Verbreitung besitzen, als daß es sich für Web-Gangster lohnen würde, Backdoors und andere kleine Schädlinge über die Browser auf die Computer ihrer Opfer zu schleusen.

Firefox hat für die Manager den Nachteil, kostenlos zu sein. Die Frage der Kosten ist zwar eine ganz andere Frage als die Frage nach der Qualität des Codes, aber für Manager, die vom Code keine Ahnung haben, ist sie die entscheidende Frage. Der handels- und radioübliche Manager agiert nach der Devise: Was nix kostet, taugt auch nix. Das ganze Open-Source-Zeugs ist darum pauschal und ohne weitere Kenntnis des Sujets Spielkram für ein paar Computerirre. Mit Argumenten ist dem nicht beizukommen. Emotionen lassen sich nur emotional verändern, nicht rational.

Opera hat ebenfalls einen Nachteil – er kostet was. Davon verstehen Manager etwas. Wenn Opera extra eingekauft werden muß, dann wird natürlich der Internet Explorer verwendet, denn der ist ja bei Windows schon dabei. Hier steckt immerhin rationale Logik drin.

Das entscheidende Argument für die Microsoft-Standards ist aber dies: Noch nirgendwo hat ein IT-Chef seinen Job verloren, weil er seine Firma mit Microsoft-Produkten zugepflastert hat. Also wieder: gefühlige Sicherheit. Wer Microsoft nimmt, ist sicher. Wer etwas anderes nimmt, muß sich rechtfertigen. Wenn ein Microsoft-Produkt nicht funktioniert, dann ist das halt so. Schicksal wie das Wetter. Wenn ein Nicht-Microsoft-Produkt nicht funktioniert, dann ist das ganze Konzept pauschal Scheiße und der Verantwortliche reif zum Abschuß. Nichts als Emotion unter weitgehender Aussparung des Verstandes.

Radio ist in Deutschland eine sehr konservative Veranstaltung. Die Sender verändern sich nur unter akutem existenzbedrohenden Zwang. Sie sind damit konservativer als die anderen Medien. Alles, was derzeit im Internet Gas gibt, wird in unseren Kreisen bis heute mit leichter Arroganz belächelt. Dabei bemerken immer mehr Sender, daß eine gut gemachte Internetseite zum ernsthaften Geschäft reifen kann – Innovation und Veränderung also sehr wohl Nutzen bringen kann.

Diese konservative Haltung ist aber offenbar zu verlockend, weil sie bequem ist. Derart bequem, das Zwangsveränderungen, z.B. nach dem Zusammenbruch von Studiotechnik, was ja hier und da auch schon passiert sein soll, regelmäßig mit Chaos verbunden sind. Wer hauptsächlich auf Beharrung setzt, verlernt Planung und Veränderung. Für den ist dann tatsächlich jedes neue Projekt ein Abenteuer.

Erfolgreiche MA!

Lemmer
Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist in Berlin.

E-Mail: christoph@radioszene.de