Borat, steh uns bei!

Bitter Lemmer

Die Kritiker überschlagen sich vor Lob. Sasha Baron Cohen alias Ali G. alias Borat sorgt für weltweite Schlagzeilen und einen Kinoknüller, indem er das Prinzip des verrückten Telefons, das landesweit zu den Radio-Comedystandards gehört, auf die Spitze treibt. Der Mann erweist sich damit nicht nur als einfallsreich, sondern auch als mutig und konsequent. Ob er auch geschmackvoll ist, mag jeder für sich entscheiden.

Festzustellen aber ist, dass er sich nicht mit Harmlosigkeiten aufhält. Für seinen Film benutzte er große und kleine Bürger als unfreiwillige Darsteller und Protagonisten seiner Inszenierung und stellte ihre kulturellen Widersprüche gnadenlos bloß. Zum seinem Glück ist er kein Deutscher.

Wäre er einer, hätte er diesen Film wohl nicht machen können. Dieselben Feuilletonisten, die ihn jetzt loben, hätten ihn als präpotenten Lümmel zerfetzt, sofern sie ihn überhaupt zur Kenntnis genommen hätten. Eine Zensur wäre gar nicht nötig gewesen, weil die institutionalisierte deutsche Selbstzensur bereits perfekt funktioniert. Eine kühne Behauptung aus dem Konjunktiv? Keineswegs.

Zunächst noch einmal das Prinzip: Akteur tarnt sich mit einer dramaturgisch passenden falschen Identität und führt damit seinen unfreiwilligen Protagonisten vor. So funktionieren die populären Telefonscherze, so funktioniert Borat. Die Intensität des Lachens und Staunens beim Hörer oder Zuschauer hängt allein davon ab, wie aufregend, authentisch und konsequent der Plot ist. Darum lachen und staunen die Zuschauer bei Borat stärker als beim Hören eines tagesnormalen verrückten Telefons, nicht aber deshalb, weil Borat als Film daherkommt. Radio könnte das auch, wie ein Beispiel zeigt, bei dem ich vor einigen Jahren mitspielen durfte.

Wir riefen in einer krisenhaften Stunde, also genau im richtigen Moment, den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ans verrückte Telefon, verkleidet als Bundespräsident Roman Herzog mit seinem Staatssekretär. Der Spaß gelang und wurde gesendet. Der Sender geriet zur Strafe unter massives Feuer. Der DJV beklagte die “Verwilderung journalistischer Sitten”. Die Zeitungen empörten sich. Der Staatsanwalt ermittelte. Der Geschäftsführer flog. Erst Wochen später ging einigen der intelligenteren Medienarbeiter auf, dass, 1., sie klammheimlich selber über den Scherz lachen mussten, und, 2., das verrückte Schröder-Telefon keine Staatskrise zur Folge hatte. So geht’s halt zu in Deutschland, wenn jemand anders als ein Fahrlehrer, ein Kühlschrankverkäufer oder eine harmlose alte Frau auf die Schippe genommen wird.

Aber wir sind selber Schuld. Wir trauen uns scheinbar nichts anderes mehr zu als Kleinkariertheit. Fürchten uns davor, mal ein größeres Rad zu drehen. Diskutieren lieber über jeden denkbaren Einwand statt einfach mal zu machen. Freuen uns mehr, wenn Herr Bürgermeister oder Herr Kreisdirektor uns mit Namen grüßen statt dass uns begeisterte Hörer für eine gelungene Persiflage (oder unbequeme Berichterstattung) loben. Reden lieber über Zivilcourage statt sie zu leben.


Lemmer
Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist in Berlin.

E-Mail: christoph@radioszene.de