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10 Jahre RADIOSZENE

Bitter Lemmer
Ganz ehrlich: Als ich zum ersten Mal die Radioszene aufrief, fand ich die Seite ziemlich zwiespältig. Dieser schwarze Hintergrund mit heller Marmorierung, dieses schnauzbärtige Bild von JB, das so aussah, als hätte sich jemand diesen Typen ausgedacht. Und dann diese Foreneinträge, die sich immer so lasen wie Sekretärinnen-Flurklatsch. Andererseits hatte da jemand dieses damals noch ziemlich neue Internet für eine gänzlich neuartige Plattform verwendet. Es war ja noch die Zeit, als „My First Homepage“ hip war, Google noch nicht existierte und die meisten Webseiten eigentlich nichts anderes waren als Schaufenster der persönlichen Egos ihrer Schöpfer. Mein damaliger Sender, 104.6 RTL, hatte damals auch seine „My First Homepage“, auf der mitgeteilt wurde, dass das Sendesignal vom Berliner Fernsehturm stammt, mit soundsoviel Kilowatt abgestrahlt werde, daneben noch weitere technische Leckerbissen für den Web-surfenden Radiofreund. Das Web war damals von Männern für Männer.

Die Radioszene gehörte womöglich zu den ersten Seiten, die das änderten. Während die überall aufkommenden Webforen hauptsächlich dazu da waren, im Internet über das Internet und über die Konfiguration des heimischen Computers zu diskutieren, ging es in Radioszene und Radioforen um alle Facetten des Radiomachens. Programm, Personal, Klatsch, Chefs, Looser, Gewinner. Radioszene war die erste mir bekannte Webseite, die mir eine Kollegin (weiblich) empfahl. Als ich zum ersten Mal darin stöberte, war ich ziemlich platt: Die schienen tatsächlich allüberall die aktuellen Gerüchte und internen Geschichten zu kennen. Das war faszinierend. Es vermittelte das Gefühl, bestens über die Lage diverser Sender informiert zu sein, was ja grundsätzlich nützlich sein könnte – wer wollte wissen, ob nicht hier und da mal ein Jobwechsel anstehen könnte. Oder wenn neue Kollegen eingestellt wurden: Mal nachsehen, was über die so verbreitet wurde.

In heutigem Business-Fachchinesisch würde man das Radioszene-Konzept so beschreiben: Eine Mischung aus redaktionellem und User-generated Content, die aufgrund ihrer Spezialisierung eine klar definierte social Community repräsentiert. Eigentlich eine typische Web-2.0-Seite, was damals, während der „New Economy“, bloß noch keiner wusste. Man könnte es auch klardeutsch ausdrücken: Eine Webseite, die ein echtes Bedürfnis erfüllt und die Möglichkeiten des WWW vom Start weg verstanden hat.

Dass die Radioszene gut funktionierte und funktioniert, bescheinigten ihr übrigens schon vom ersten Tag an die Chefetagen der Radiosender. Auch technisch weniger versierte Radiomacher lernten schnell, was „History löschen“ bedeutet und dass es sinnvoll war, vor dem Aufruf der Radioszene eine harmlos aussehende andere Seite zu öffnen, um bei Chef-Annäherung schnell umschalten zu können. Für besonders schlau hielten es die weniger souveränen unter den Chefs dann, den Empfang der Radioszene auf ihren Redaktionscomputern technisch-administrativ zu verhindern. Etliche ihrer Mitarbeiter erweiterten ihr webtechnisches Wissen ein weiteres Mal und eigneten sich Kenntnisse über Proxy-Server an, mit denen der sendertechnische Radioszene-Bann umschifft werden konnte. Irgendwann war das Spiel beendet und die Radioszene ganzheitlich in der Branche akzeptiert. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass hier der mit Abstand größte Stellenmarkt im deutschen Radiogeschäft zu finden ist.

Außerdem finde ich, dass die Seite heute weit besser aussieht als vor zehn Jahren.


Lemmer
Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist in Berlin.

E-Mail: christoph@radioszene.de

XPLR: MEDIA Radio-Report