Ciao, Lizenzradio!

Bitter Lemmer

Da reden alle jahrelang über die digitale Zukunft des Radios, und – schwupps – isse plötzlich da. Sie landete auf meinem iPhone in Form einer Applikation namens iRadio. Dasselbe gibt es demnächst bei den neuen Oberklasse-Handys von Nokia. Und vermutlich dann auf so ziemlich allen Mobiltelefonen aller Hersteller. Webradio auf dem Handy. Wenn Hersteller und Netzbetreiber mitspielen, sind die Tage der UKW- Dominanz schon bald beendet. Lizenzen zum Radiomachen braucht dann keiner mehr.

iRadioWie das funktioniert, kennen viele schon aus dem iTunes-Programm von Apple. Da gibt es einen Radio-Button, der den Zugang zu derzeit 25 unterschiedlichen Formaten öffnet. Von dort klickt man sich weiter zu den einzelnen Programmen, darunter 162 Sender für Alternative-Rock, 54 Classic-Rock-Stationen, 98 Hip-Hop-Streams und 82 verschiedene News- und Talkprogramme verbergen. Auch hierzulande seltenes gibt es, z.B. 82 religiöse Sender. Wer das aktuelle deutsche Mainstream-Radio bevorzugt, wird vielleicht bei einer der 122 Siebziger/Achtziger-Pop- Stationen fündig.

iRadioNach derselben Methode löst das die iRadio-Applikation. Eine Liste mit verschiedenen Formaten, dahinter eine große Anzahl von Sendern. Das iRadio-Programm stammt aus der Software-Schmiede von Dimitrij Boldyrev, der in den 90er Jahren den Mediaplayer Winamp erfand. Winamp bracht den Windows-Rechnern überhaupt erst den Umgang mit Audio bei und war die erste Wahl zum Abhören von MP3s, bis Microsoft den Mediaplayer entwickelte und auf den Windows-Rechnern vorinstallierte.

Nokia geht genauso vor, also Liste von Webradioformaten und vielen Sendern aus der ganzen Welt, die einfach auf dem Handy gehört werden können. Damit ist demnächst eine riesige Hürde genommen, die z.B. die DAB-Lobby bisher nicht schaffte: Praktisch jedermann wird in naher Zukunft ein Gerät ständig mit sich führen, das den Zugang zu den Streams ermöglicht.

Offen ist, wie sich die Netzbetreiber jetzt verhalten. Solange sie Datenübertragung zu Apothekerpreisen verkaufen, werden die Webradios eine Randerscheinung bleiben. Wenn sie aber günstige Flatrates einführen, wird unsere heutige Radiolandschaft von Grund auf umgebaut. Webradios erreichen dann den breiten Markt. Und – wichtiger: Jeder kann seinen eigenen Sender betreiben, ohne eine Lizenz zu benötigen oder teure UKW-Sendetechnik mieten zu müssen. Eine Revolution der Radiobranche.

Die Konsequenzen werden erheblich sein. Die heutigen UKW- Lizenzprogramme müssten sich massenhafter Konkurrenz erwehren. Der Weg für Formate wäre frei, die bisher bei den Medienanstalten chancenlos waren – z.B. kontroverser Talk. Die Frage des Internet-Engagements der Öffentlich-Rechtlichen würde sich völlig neu stellen, allerdings auch die Frage, ob sie überhaupt noch notwendig wären. Einige Regulierer ahnen schon seit geraumer Zeit, was da auf sie zukommt. Norbert Schneider, Chef der Medienanstalt in NRW, verlangte schon vor Monaten in einem taz-Interview, die Betreiber von Webradios mögen sich „ehrlich machen“ und Lizenzen beantragen. Er vermochte aber nicht zu begründen, warum die das tun sollten. Webradios sind rechtlich nichts anderes als private Homepages. Jeder darf sie ins Netz stellen, wenn ihm danach ist. Selbst, wenn die Medienpolitiker versuchen sollten, für Deutschland eine Lizenzpflicht für Webradios einzuführen: Wie wollten sie die begründen? Die bisherige Begründung – knappe Funkfrequenzen – existiert ja nicht mehr. Und wie wollten sie sie durchsetzen? Lizenzen etwa nur für inländische Betreiber, die den Markt damit ausländischen Anbietern überlassen müssten?

Kaum vorstellbar, nicht einmal im regulierungswütigen Deutschland. An keinem klassischen Medium ist die digitale Revolution bisher so folgenlos vorübergezogen wie am Radio. Jetzt kommt es dafür umso heftiger. Auf einmal geht es um die Grundlagen der ganzen Branche.

Viel Risiko, aber noch mehr Chancen.

Lemmer
Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist in Berlin.

E-Mail: christoph@radioszene.de