Radio ist nicht tot, es wird nur anders weiterleben

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Zum fünften Mal trafen sich Radioprofis aus aller Welt zum Gedankenaustausch, Erkenntnisgewinn, der Pflege von Businesskontakten und natürlich auch zum Feiern. Die Radiodays Europe fanden diesmal vom 15. bis zum 17. März in der norditalienischen Metropole Mailand, mit über 1,3 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Italiens, statt. Sie sind inzwischen zu einer festen und wichtigen Institution für Radiomacher geworden.

Über 1.300 Gäste, Aussteller und Referenten aus 60 Ländern machten die Veranstaltung wieder einmal zu einem vollen Erfolg.

„Passion meets Progress“, also, Leidenschaft trifft auf Fortschritt – unter diesem Motto standen die Radiodays Europe in diesem Jahr und die großen Themen in Mailand waren vor allem künftige die technischen Verbreitungswege und die zielgruppenorientierte Programmgestaltung.

Entertainment rules – Elvis Duran

Nachdem die Hosts Gioia Marzocchi aus Italien und Paul Robinson aus Großbritannien die Gäste begrüßt hatten, sorgten die US-Radiolegende Elvis Duran und Dennis Clark, erfolgreicher Personality Coach beim US-Medienkonzern iHeart Radio, für einen furiosen und unterhaltsamen Auftakt. Elvis Duran gehörte vor allem in den 80er-Jahren, als amerikanisches CHR-Radio noch laut, schnell und showintensiv war, zu den absoluten Power-Jocks und war stets einer der beliebtesten DJs bei der weltweit bekannten New Yorker Hitstation Z100.

Dennis Clark, Elvis Duran, John Simons (Bild: @ RADIOSZENE)
Dennis Clark, Elvis Duran, John Simons (Bild: @ RADIOSZENE)

Aircheck-Videos, Star-Testimonials und TV-Promos untermalten die launigen Dialoge zwischen Dennis und Elvis, dessen Performance inszwischen ruhiger geworden ist, was ohnehin die aktuelle Programmphilosophie der US-Broadcaster zu sein scheint: Weniger Show, weniger Tempo, dafür mehr Natürlichkeit und Emotionalität bei ständiger Einbindung des Hörers über alle Medien, die heute dank Internet und Mobilfunktechnologie zur Verfügung stehen. Schließlich gab es Standing Ovations für Elvis Duran, der u.a. ehrlich eingeräumt hatte, keine Führungsqualitäten als PD oder CEO zu haben und sich vor dem Mikrofon einfach am wohlsten fühle. Offensichtlich hat er das Peter-Prinzip bestens verstanden!

Five simple tools to make your show better –

David G. Hall (Bild: Radiodays Europe)
David G. Hall (Bild: Radiodays Europe)

„Mikrofonarbeiter“ und On Air Personalities versammelten sich zahlreich bei David G. Hall, Medienstratege aus Los Angeles, um die „Five simple tools to make your show better“ kennenzulernen. Der Beste in dem, was man tut, soll man sein: außergewöhnlich, zielgruppenorientiert, im engen Kontakt mit der Programmdirektion, aber seine Show selber kontrollieren und sich nicht blind auf die Zuarbeit seines Teams verlassen, dabei stets in alle Themen seine eigene Lebenserfahrung einfließen lassen und Wert auf sorgfältige Vorbereitung legen. Showprep ist immer ein wichtiges Thema bei amerikanischen Programmberatern. Das alles wurde aber nicht trocken vorgetragen, sondern anhand akustischer Beispiele, vor allem europäischer Radiostationen, nachvollziehbar gemacht. Besonders spektakulär war hierbei der Aircheck aus einer spanischen Morningshow, als eine Hörerin anonym erzählte, sie hätte in einem Swingerclub eine Affäre begonnen und schließlich herausgefunden, daß es sich dabei um den eigenen Cousin handelt. Das sind wohl eher die seltenen Momente im Radio.

What if technology becomes your best friend?

Dass Radio durch neue Medien, also Internet, Mobilfunk und Social Networks starke Konkurrenz bekommen hat, die dem Printbereich allerdings weit mehr zusetzt, als dem Rundfunk, ist nicht neu. Durch die Vernetzung der vorhandenen Technologien sind die Möglichkeiten des Radios, seine Kernkompetenzen im allgemeinen Medienrauschen herauszustellen und noch stärker zum eigenen Vorteil einzusetzen allerdings immens gestiegen und auch der Hörer profitiert davon.

Informationen über Aktuelles gelangen vom Ort des Geschehens schneller zum Rezipienten, als je zuvor. Zudem hat sich die Informationsdichte pro Zeiteinheit durch bessere Zugriffsmöglichkeiten dramatisch erhöht. Die mannigfaltigen Vorteile moderner Technologien stellen die Programmgestalter, also Reporter, Redakteure, Sprecher und Techniker vor neue Herausforderungen, sind die Übertragungs-und Studiosoftwaresysteme inzwischen einigermaßen komplex und nicht immer ganz leicht bedienbar geworden. Softwarehersteller, wie DAVID-Systems arbeiten daher kontinuierlich daran, die Möglichkeiten sowie Bedienungssicherheit- und Einfachheit gleichermaßen weiterzuentwickeln. Schließlich soll Technik kein Selbstzweck sein, sondern der beste Freund des Programmmachers. So stellten die Vortragenden des interessanten Technik-Boards die Frage: „What if technology becomes your best friend?“

Dabei präsentierten die Referenten ein Modell, in dem mehrere Systeme (X-News und DigAS) in der Kombination die Möglichkeit für den Redakteur bieten, Content in Sekundenschnelle zu generieren, das Audio korrekt im Redaktionssystem zu labeln und mit Zusatzinformationen zu versehen, so daß es anschließend automatisch in das Sendesystem eingepflegt werden kann und im Livebetrieb sofort abrufbar wird. Gleichzeitig werden aber auch weitere Kanäle beschickt (z.B. Spotify) und der Rezipient hat somit die Möglichkeit, den Content in einem Medium seiner Wahl abzurufen: „You create a content and the consumer decides which way to get it“.

„Hey Mr. DJ…Put a record on“

Angesichts hochtechnisierter Sendeabläufe und streng zielgruppenorientierten Programmings mutet dieser Titel geradezu archaisch an und tatsächlich stellten die Programmverantwortlichen Luc Frelon von fip Radio aus Frankreich, Jure Longyka von VAL 202 aus Slowenien und Chris Blacklay mit somethin else Programmkonzepte vor, die man im Wellenkonzert der formatierten Sender weltweit wohl nur noch selten antrifft: Echtes DJ-Radio eben.

fip Radio setzt dabei auf Nonstopmusik aus nahezu allen musikalischen Genres (z.B. Rock, Blues, Klassik, Chansons), nur unterbrochen durch eine weibliche Stimme, die Infos zu den Musiktiteln liefert – eine Art Station Voice also.

Bei VAL 202 präsentieren verschiedene DJs außergewöhnliche Musik, z.B. slowenischen Hip-Hop, aber auch besondere Live-Events und kreieren somit einen unverwechselbaren Sound.

Chris Blacklay (Bild: Radiodays Europe)
Chris Blacklay (Bild: Radiodays Europe)

Ein ähnliches Konzept verfolgt Chris Blacklay mit dem BBC-Ableger somethin else, wo Kenner und Fans bestimmter Musikrichtungen, z.B. Reggae, „ihre“ Musik präsentieren, garniert mit Hintergrundinformationen über die Songs und Künstler. DJ Trevor Nelson z.b. hat sich auf schwarze Musik spezialisiert und verspricht, in seinen Sendungen innerhalb eines Jahres keinen Song auch nur einmal zu wiederholen.

Diese Art von Rotation dürfte in der Welt des Radios einmalig sein. Im professionellen Formatradio, wo Marktforschung, Musiktests, Trackinganalysen und ständiges Finetuning zur targetspezifischen Anpassung an die Bedürfnisse des Hörers selbstverständlich sind und zur Tagesordnung gehören, erscheinen o.g. Programmkonzepte, wo die Leidenschaft zur Musik im Radio („Music passion on your radio“) und der Geschmack des jeweiligen Presenters im Vordergrund stehen, wie Inseln der Glückseligkeit. So sprechen die Referenten, allesamt Vertreter öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten, dem zeitgenössischen Top-40-Radio auch jegliche Empathie für Musik ab und sind der Meinung, nur staatlicher Rundfunk könne noch die Vielfalt der populären Musik abbilden. Dieser These allerdings steht doch die Tatsache entgegen, daß es ausschließlich kommerzielle Radiosender waren, die in den 60er-Jahren den Siegeszug der Popmusik erst möglich machten. In Europa waren dies vor allem Offshore-Stationen, wie Radio Caroline, Big L Radio London, Radio Veronica oder Radio Nordsee International. Wer kann schon heute genau sagen, wohin der Weg des privaten Radios in der Zukunft noch weisen mag.

Prank Call

Mel Greig (Bild: Ulrich Köring/RADIOSZENE)
Mel Greig (Bild: Ulrich Köring/RADIOSZENE)

Ein düsteres Kapitel der Radiogeschichte war Thema eines Vortrages von Mel Greig, die im Jahre 2012 traurige Berühmtheit erlangte, als sie mit ihrem damaligen Kollegen Michael Christian für den australischen Sender 2DAYFM einen „Prank call“, also einen Scherzanruf sendete.

Die beiden hatten in jener britischen Klinik angerufen, in der sich die damals hochschwangere Catherine Middleton befand, sich als die Queen und Prince Charles ausgegeben und es tatsächlich geschafft, zu Kate durchgestellt zu werden. Krankenschwester Jacintha Saldanha, die den Anruf entgegengenommen und weitergeleitet hatte, beging daraufhin Selbstmord; aus Scham, wie ihre Familie sagte.

Mel Greig, deren Radiokarriere damit beendet war, wie auch die ihres Kollegen, schilderte die Hölle, durch die sie in den Jahren danach ging, als sie nicht nur einen endlosen Shitstorm über sich ergehen lassen mußte, sondern auch von einem Stalker bedroht wurde. Sie litt lange Zeit unter Depression und ihr Leben normalisiert sich heute allmählich wieder, dank fortwährender psychologischer Betreuung und der moralischen Unterstützung durch ihren Ehemann. Sie richtete einen flammenden Appell an alle Radioverantwortlichen, von solchen Telefonscherzen grundsätzlich Abstand zu nehmen und signalisierte, dass sie nach all den Jahren inzwischen wieder bereit sei und Lust habe, fürs Radio zu arbeiten, egal, wo immer dies sein würde. Ein bewegender Vortrag, der auch einmal die große Verantwortung in den Vordergrund rückte, die man als Radiopräsentator hat – auch wenn dieser tragische Ausgang des Prank Calls so wohl nicht vorhersehbar war und hoffentlich einmalig bleiben wird (vgl. auch Artikel auf Spiegel Online: Scherzanruf in Herzogin Kates Klinik: Radiosender droht Strafe).

Is Radio really dead?

Am Dienstagvormittag wurde es Zeit für mich, zu gehen, als ich zum Abschied die erschreckendste Botschaft der gesamten Veranstaltungsreihe von BBC-Controller Ben Cooper vernahm: „Radio is dead!“ Aber erstens wissen wir ja, dass Totgesagte länger leben und zweitens meinte er mit dieser provokanten These die althergebrachte Art von Radio, wie wir sie jahrelang gekannt und gepflegt haben: Vom Studio zum Sender in den Äther zum Empfänger. Das fruchtet noch immer bei der reiferen Generation der Radiohörer, wird aber bei nachfolgenden Generationen langfristig nicht mehr funktionieren. Grund ist die ungebremste Verbreitung des Smartphones, welches sich als Dreh-und Angelpunkt aller künftigen Kommunikationswege immer mehr herauskristallisiert.

Egal, welche technischen Übertragungssysteme sich künftig durchzusetzen vermögen, die Radioverantwortlichen werden sich darauf einstellen müssen, die neuen Channels zu nutzen und die Programmmitarbeiter an der Front profitieren einerseits zwar von den gestiegenen Nutzungsmöglichkeiten moderner Softwarelösungen, müssen andererseits jedoch flexibler werden in der Interaktion mit dem Hörer über soziale Netzwerke und Kommunikations-Apps. So könnte das Fazit zu den Radiodays Europe wohl eher versöhnlich ausfallen: Radio ist nicht tot, es wird nur anders weiterleben.

Weiterführende Informationen
Radiodays Europe