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MA-Nachlese: Die noch gut aussehende, aber etwas eintönig lebende Señorita

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Ich bin ja, das habe ich gelegentlich schon durchblicken lassen, ein Radio-Hamburg-Fan. Die Station ist so eine Art Prototyp des erfolgreichen, gut gemachten Mainstream-Radios. Extrem solide, extrem beständig, mit der bemerkenswerten Fähigkeit, hohe Qualität über lange Zeit zu halten. Ich könnte hier auch 104.6 RTL nennen, was ich aber ungern tue, weil ich da lange gearbeitet habe und darum befangen bin. Der Befund wäre aber derselbe. Beide haben bei der MA 2012 I praktisch weder gewonnen noch verloren. Hinter den Minuszeichen stehen Zahlen von unter einem bis zweieinhalb Prozent, was angesichts der groben Genauigkeit der MA-Messung weniger ist als die tatsächliche Fehlertoleranz. Wir haben es hier mit zwei Sendern zu tun, die ihre Spitzenpositionen souverän halten und auch in den nächsten Jahren souverän halten werden, sofern sich an der Spitze oder am Morgen keine bahnbrechenden Dinge ändern werden.

Berlin und Hamburg sind deshalb etwas interessanter als der Rest des Landes, weil die Märkte hier relativ wettbewerbsorientiert sind. Die Medienbehörden lassen entweder aus Überzeugung die Leine lang (Berlin) oder sind zu schwach für umfassende planwirtschaftliche Kontrolle (Hamburg). Heraus kommt eine Entwicklung, die den Willen der Hörer, also des Marktes, spiegelt. Die Akteure scheren sich wenig bis gar nicht um politische Vorgaben. Alle Entscheidungen basieren im Prinzip nur auf einer Frage: Was gefällt der Kundschaft?

Große Innovationen hat es in den letzten Jahren in beiden Märkten nicht gegeben. Mit großer Innovation meine ich so etwas wie die Einführung des Privatfunks. Oder die Lizenzierung gleich eines gefühlten Dutzends neuer Sender, wie in Berlin nach der Wende. Solche Veränderung wirbeln einen Markt auf, was den Platzhirschen (in Berlin damals Hundert,6) natürlich erstmal nicht in den Kram passt, am Ende aber meistens den Markt vergrößert und damit die Zahl der Jobs und der Euros in der Kasse kräftig steigert.

Möglicherweise läuft so eine Innovation unterschwellig schon seit einer Weile. Schauen wir uns ausnahmsweise die Zahlen der bundesweiten Sender an, eine bisher meist im Kabel verbreitete irrelevante Randerscheinung. Jam FM legte 11 Prozent zu (in den Zielgruppen deutlich mehr), Klassik Radio 22 Prozent. Beide sind Spezialisten auf ihrem Gebiet. Beide haben lange Anlaufstrecken hinter sich, weil beide viel Zeit und Mühe investieren mussten, um sich dem Markt erst einmal vorzustellen. Dass sich dass ausgerechnet in einer Zeit auszahlt, in der das Programm immer wichtiger und die Plattform immer unwichtiger wird, passt ins Bild und zum Internet. Zum Gegencheck der Hinweis auf RTL Radio (das bundesweite Programm aus Luxemburg), das ebenso auf hohem Niveau besteht wie Radio Hamburg oder das Schwesterprogramm in Berlin.

Der Markt wirkt ein bisschen wie eine reife Señorita, die zwar noch Spaß am Leben hat, der aber nichts wirklich Neues mehr einfallen will und die im Grunde wunschlos glücklich ist. Das ist anders als in anderen Industrien. Ob Autos, Computer, Handys, Lebensmittel oder schon qua Definition Mode – wer der Kundschaft immer dasselbe kredenzt, wird von agileren Konkurrenten ratzfatz aus dem Markt geschossen. Das geht lizenzbedingt beim Radio nicht so schnell. In Sicherheit sollte sich dennoch niemand wiegen. Die Wirtschaftsgeschichte kennt etliche Beispiele für Unternehmen, die sich zu lange sicher glaubten und die Zeichen der Zeit übersehen haben.

 

Lemmer
Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist.

E-Mail: christoph@radioszene.de

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