„Müssen wir alle sterben?“

Schaltreport_250Der Zentralfriedhof in Wien ist seit jeher eine der bekanntesten und charakteristischsten Plätze Wiens. Es gibt nicht wenige, die behaupten, erst wer einmal den Zentralfriedhof besucht hat, hat zumindest eine Ahnung vom Gemüt der Wiener.

Insbesondere in der nun beginnenden Hauptsaison, dem wettermäßig meist düsteren Herbst, finden sich Einheimische wie Touristen auf dem 2,5 km²-großen Gelände ein, um fröstelnd eine Ahnung der Endlichkeit zu verspüren und sich in morbiden Gefühlen zu suhlen. Der Wiener Zentralfriedhof ist das Disneyland der Thanatos-Jünger.

Wer sich ähnlich gerne der Hoffnungslosigkeit und dem Gefühl des nahenden Todes hingeben möchte, aber den weiten Weg nach Wien-Simmering scheut, der ist vielleicht mit einem simplen Praktikum bei einem deutschsprachigen Radiosender ebenfalls gut bedient.

Kaum eine Branchenveranstaltung kommt mittlerweile ohne Diskussionen über das nahe Ende des Radios aus; wo bei den Managern anderer Branchen Anglizismen oder Managementtrends das Maß der Dinge sind, regiert bei Radiomanagern die lustvolle Selbstgeißelung: „Wir haben Fehler gemacht“, „Radio muss wieder relevant werden“ „Alles wird schneller“ „In 5 Jahren wird uns keiner mehr hören“ „Wir dürfen den Anschluss nicht verpassen“ dröhnt es landauf, landab von den Podien.

Nun ist es ja meines Wissens nach nicht so, dass die EU-Kommission eine Gesetzesnovelle zur Abschaffung von Radio vorbereitet hätte oder dass Microsoft, Google und Telefonica gerade bekanntgegeben hätten, mit Milliardensummen ins Radiogeschäft drängen zu wollen (im TV-Bereich mag diese Befürchtung eher berechtigt zu sein).

Woher kommt also diese ständige Angst vieler Radiomacher, in den nächsten Jahren substituiert zu werden?

Möglicherweise einfach aus der Tatsache, dass Radio bisher zu erfolgreich war – zumindest in der Nutzung (nicht immer in der Vermarktung): Es gibt kaum ein anderes Medium, das ein solch schlüssiges, erprobtes und funktionierendes Geschäftsmodell vorzuweisen hat (mobile, audiobasierte Nebenbei-Unterhaltung), über Jahrzehnte verbessert hat und das nahezu von jedem Menschen täglich genutzt wird.

Wenn jetzt mehr Anbieter auftreten, kann das zwar unbestreitbar zu leichten Erosionen führen, aber wird das Geschäftsmodell Radio nicht grundsätzlich zunichte machen. Und: Es wäre etwas mehr Realismus angebracht, wenn es um die Angst der meisten Radiomacher geht, durch neue Produkte und Entwicklungen aus allen möglichen Bereichen substituiert zu werden.

Es gab in den letzten Jahren viele Erfindungen, und nicht wenige von ihnen wurden als Bedrohung für das Radio angesehen. Bevor wir jetzt aber anfangen, neben iPods, Handies und Computern auch Taschenrechner, Schwimmbäder und lustige Taschenbücher als Bedrohungen anzusehen, nur weil sie auch am Zeitbudget unserer Hörer nagen, sollten wir uns wieder darauf konzentrieren, was seit Jahrzehnten eine Erfolgsstory ist: Mit Musik und Moderation für gute Unterhaltung zu sorgen.

Der Wiener Zentralfriedhof im Portrait

Der Schlaf, der natürliche Feind der Radionutzung

…und sein Zwillingsbruder Thanatos

Massenmedien im Vergleich


Christian Schalt06 110

Christian Schalt

(Programmdirektor KISS FM Berlin)

Kontakt: http://www.xing.com/hp/Christian_Schalt

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