Keine „Dauerschleifen“ mit Ed Sheeran im Radio

Ed Sheeran am 12. Februar 2015 in Prag (Bild: ©yakub88/123RF)
Ed Sheeran am 12. Februar 2015 in Prag (Bild: ©yakub88/123RF)

Von Horst Müller

Das hat es in der Geschichte internationaler Hitparaden noch nie zuvor gegeben: Neun der Top 10-Titel in der britischen „Official Chart“ stammten am 10. März von Ed Sheeran. Aus seinem neuen Album „÷ (Divide)“ konnte der Singer-Songwriter sogar alle 16 Stücke in den Top 20 platzieren. Dieser Rekord kennzeichnet eine neue Form des Musikkonsums, die auch Einfluss auf die Planung bei Radiostationen haben könnte.

Der bisherige Hitparaden-Rekord hat immerhin fast 53 Jahre gehalten: In den US-Hot 100 des Fachmagazins „Billboard“ nahmen am 4. April 1964 die Beatles die ersten fünf Plätze ein. Damals wurden die Hitparaden in den Vereinigten Staaten sowie in anderen Ländern noch anhand von Verkäufen der so genannten Single-Platten ermittelt. Dass Plattenfirmen mehrere Titel eines Interpreten zugleich als Single veröffentlichten, war seinerzeit eher eine Ausnahme als die Regel.

Auszug aus Billboard US Hot 100 vom 4. April 1964

  1. Can’t Buy Me Love – The Beatles
  2. Twist And Shout – The Beatles
  3. She Loves You – The Beatles
  4. I Want To Hold Your Hand – The Beatles
  5. Please Please Please Me – The Beatles
  6. Suspicion – Terry Stafford
  7. Hello Dolly – Louis Armstrong

Für die geballte Beatles-Präsenz in den US-Charts gab’s damals aber gute Gründe: Die weltweite Euphorie für die „Fab Four“ hatte im Frühjahr 1964 mit einiger Verspätung auch die Vereinigten Staaten erreicht. Seinerzeit machten die Beatles ihre erste US-Tournee und hatten zudem Auftritte in populären TV-Shows wie bei Ed Sullivan. Um auch bei den Plattenverkäufen von der so genannten „Beatlemania“ in den USA profitieren zu können, wurde im Frühjahr 1964 nicht nur die damals aktuelle Single „Can’t Buy Me Love“ veröffentlicht, sondern auch weitere Titel, die in Großbritannien und anderswo schon im Jahr zuvor das „Beatles-Fieber“ ausgelöst hatten.

 

Dann kamen iTunes und Spotify

„Früher konnten Plattenfirmen praktisch vorgeben, welche Titel zu welchem Zeitpunkt auf den Markt kamen und damit auch im Radio eingesetzt wurden“, weiß Norbert Grundei, der Programmchef von N-JOY, dem Jugendradio des Norddeutschen Rundfunks. Tatsächlich wurden früher Singles nacheinander veröffentlicht, später schubweise einzelne Titel aus den jeweils aktuellen Langspielplatten oder CD-Alben „ausgekoppelt“.

Norbert Grundei ist Programmchef von N-JOY, dem Jugendradio des Norddeutschen Rundfunks (Bild: ©NDR)
Norbert Grundei ist Programmchef von N-JOY, dem Jugendradio des Norddeutschen Rundfunks (Bild: ©NDR)

Das bis dahin angestammte Vertriebssystem der Musikindustrie wurde ab 2001 von Apple-Chef Steve Jobs kräftig durcheinander gewirbelt. Ausgerechnet ein Branchenfremder entdeckte seinerzeit das von den etablierten Plattenfirmen vernachlässigte Geschäft mit Musik-Downloads aus dem Internet. Mit der Musikverwaltungs-Software „iTunes“ und einer umfangreichen Titelauswahl in seinem virtuellen Onlineshop, wollte Jobs vor allem Angebote für den damals ebenfalls neuen MP3-Player „iPod“ bereitstellen – und an den kostenpflichtigen Musik-Downloads mitverdienen. Neu war damals, dass von Apple neben ganzen Alben auch alle Titel einzeln zum Festpreis von zunächst 99 Cent angeboten wurden.

iPod Shuffle von Apple – Musik zum Download und Mitnehmen (Bild: ©Sabrit Tuzcu via unsplash.com/sabrit)
iPod Shuffle von Apple – Musik zum Download und Mitnehmen (Bild: ©Sabrit Tuzcu via unsplash.com/sabrit)

Während Apple mit iPod und iTunes schnell Erfolg hatte, dauerte es einige Zeit, bis sich das 2006 in Stockholm gegründete Spotify international durchsetzen konnte, zumindest kommerziell. Inzwischen sind die Schweden jedoch längst Weltmarktführer unter den Musik-Streamingdiensten, bei denen die Nutzung des umfangreichen Titelangebots nur für den Zeitraum der kostenpflichtigen Abonnements möglich ist. Anfang März dieses Jahres knackte Spotify nach eigenen Angaben die 50-Millionengrenze und liegt damit deutlich vor „Music“ von Apple mit rund 20 Millionen Abonnenten.

Spotify-Gründer Daniel Ek (Bild: ©Spotify)
Spotify-Gründer Daniel Ek (Bild: ©Spotify)

Auch für den deutschen Musikmarkt nimmt die Bedeutung von Streamings stark zu. Nach Angaben des Bundesverbands der Musikindustrie stieg der Umsatz von 233 Millionen Euro im Jahr 2015 auf 384 Millionen im vergangenen Jahr. Spotify und Co. haben damit einen Anteil von knapp einem Viertel des Gesamtumsatzes auf dem Musikmarkt in Deutschland – bei stark steigender Tendenz.
 

Dank Spotify & Co. dominiert Ed Sheeran die britischen Charts

Official British Chart am 10. März 2017 (Screenshot: BBC)
Official British Chart am 10. März 2017 (Screenshot: BBC)

Wegen endloser Musik-Streamings auf Spotify und anderen Diensten würde ein Künstler die britische Hitparade dominieren, beklagte am vergangenen Freitag The Guardian, nachdem bekannt geworden war, dass Ed Sheeran alle 16 Titel seines zu Beginn des Monats neu erschienenen Albums „÷ (Divide)“ unter den Top 20 der offiziellen BBC-Charts platzieren konnte. Neun Songs des Singer-Songwriters sind sogar unter den ersten 10 zu finden. Nur die Chainsmokers sorgen gemeinsam mit Coldplay auf Rang 7 für ein wenig Abwechslung in der „Hitparaden-Eintönigkeit“ (The Guardian) auf der Insel.

Auch in zahlreichen anderen Ländern werden inzwischen Rekordverkäufe des neuen Sheeran-Albums vermeldet. In den USA schnellte „÷ (Divide)“ sofort auf Platz 1 der „Billboard 200“ und wurde nur wenige Tage nach der Veröffentlichung zum bislang meistverkauften Album des Jahres 2017. Die Spitzenposition erreichte Ed Sheeran auf Anhieb auch in den von Media Controlveröffentlichten Deutschen Album Charts. Bei der Auswertung nach Einzeltiteln ist der Erfolg des Popbarden hierzulande zwar nicht ganz so groß wie in Großbritannien; immerhin aber belegt er in den „Song-Charts“ mit den Stücken „Shape Of You“ und „Castle On The Hill“ beide Spitzenplätze. Zudem platzierten sich auch in Deutschland alle 16 Titel des Albums zumindest unter den Top 100.

Der dennoch bestehende Unterschied zu seiner Dominanz in der englischen Hitparade wird von Media Control unter anderem damit erklärt, dass bei Ermittlung der deutschen Charts den Streaming-Abrufen „vermutlich eine andere Gewichtung zugrunde liegt„, als in Großbritannien bei der Zusammenstellung der „Official Chart“. Insgesamt setzt sich die Song-Chart von Media Control aus „physischen und digitalen Verkäufen, Audio und Video-Streams sowie Radio Einsätzen“ zusammen. Dabei werden nach Angaben des Unternehmens die Verkäufe höher gewichtet als die übrigen Verbreitungswege.
 

Mehr Mut bei der Musikplanung im Radio

Vertriebswege hin – unterschiedliche Gewichtungen bei Ermittlung von Charts her. Der rasante „Hitparaden-Sturm“ des Ed Sheeran zeigt, dass sich die Art des Musikkonsums vor allem bei jungen Hörern dank Spotify und Co. deutlich geändert hat. Einzelne Interpreten oder Gruppen werden für gewisse Zeiträume in Dauerschleife konsumiert: gestern Macklemore, heute Ed Sheeran und morgen vielleicht mal wieder Rihanna oder die Chainsmokers.

Dieses veränderte Verhalten seiner Klientel beobachtet auch N-JOY-Chef Norbert Grundei nach eigenen Angaben schon seit geraumer Zeit. Beim Jugendradio des NDR ist man deswegen dazu übergegangen bei der Musikplanung die so genannte „Interpreten-Sperre“ zu lockern. Inzwischen könne es durchaus möglich sein, dass unterschiedliche Titel eines gerade besonders angesagten Künstlers innerhalb von weniger als 90 Minuten eingesetzt werden, sagt Grundei und führt dabei Rihanna als Beispiel aus den letzten Monaten an. Dauereinsätze einzelner Interpreten über ganze Musikstrecken im Tagesprogramm von N-JOY kann er sich dagegen nicht vorstellen. Allerdings sei heutzutage mehr Mut und auch mehr Sorgfalt bei der Musikplanung nötig, um die Hörer bei der Stange zu halten.

Ina Tenz ist seit Beginn des Jahres Programmdirektorin von Antenne Bayern (Bild: ©Antenne Bayern)
Ina Tenz ist seit Beginn des Jahres Programmdirektorin von Antenne Bayern (Bild: ©Antenne Bayern)

Mehr Mut und auch noch größere Sorgfalt bei der Musikplanung sind zwei Stichworte, die Ina Tenz unabhängig von ihrem öffentlich-rechtlichen Kollegen spontan nennt, als ich die neue Programmdirektorin von Antenne Bayern am Telefon auf mögliche Konsequenzen für Radiomacher aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Musik-Streamings anspreche. Bei der Musikplanung für das Programm von Deutschlands größtem Privatsender verlässt sich die erfahrene Radiofrau keineswegs allein auf computergestützte Planungssysteme, bei denen Einsatzzeiten von Interpreten und deren Titel auf Grundlage von Vorgaben mathematisch berechnet werden: „Für einen guten Liebesbrief ist schließlich auch mehr erforderlich, als nur die Installation von ‚Word‘ auf einem Computer.“

Damit die „musikalischen Liebesbotschaften“ bei den Hörern auch ankommen, kümmern sich nach Angabe der Antenne-Chefin vier Musikredakteure im Funkhaus in Ismaning bei München um die richtige Mischung, passend zu den sonstigen Inhalten des Programms und zum Image des Senders. Mit dem Slogan „Wir lieben Bayern. Wir lieben Hits“, setzt man bei der Antenne sowohl auf regionale Informations- als auch auf Musikkompetenz.

Roel Oosthout ist Programmchef von Hit Radio FFH in Hessen (Bild: ©Hit Radio FFH)
Roel Oosthout ist Programmchef von Hit Radio FFH in Hessen (Bild: ©Hit Radio FFH)

Ähnlich wie Ina Tenz argumentiert auch Roel Oosthout, Programmchef von Hit Radio FFH, dem langjährigen Marktführer in Hessen. Auch für den gelernten Musikredakteur, der früher für die niederländische Radiolegende Ad Roland arbeitete, besteht gutes und erfolgreiches Radio nicht nur aus dem Abspielen von Hits, sondern auch aus den anderen Programmelementen, wobei er „Informationen“ an erster Stelle nennt. Musik-Streaminganbieter sieht er auch nicht als direkte Konkurrenten zu Radioprogrammen wie FFH, sondern mehr als „sehr komfortable Nachfolger von Schallplatten, Cassetten und CDs“. Auch da hätten früher die Leute immer wieder dieselben Interpreten und Titel gehört, abseits von Radioprogrammen.

Dennoch will Roel Oosthout Bedeutung und Einflüsse der Streamingdienste nicht unterschätzen: „Natürlich müssen wir darauf achten, was sich bei Spotify tut und welche Titel dort besonders häufig nachgefragt werden“, sagt Oosthut und räumt ein, dass Radiosender inzwischen mutiger bei Auswahl und Einsatz von Musiktiteln geworden sind: „Wir spielen heute Titel, die wir vor fünf oder gar zehn Jahren noch nicht eingesetzt hätten.“ Als konkretes Beispiel nennt er spontan die amerikanischen Heavy Metal-Rocker „Disturbed“ mit ihrer Version des Simon & Garfunkel Klassikers „The Sound of Silence“.

Eine grundsätzliche Änderung des Planungsschemas bei populär ausgerichteten Radioprogrammen kann sich der Hit Radio FFH-Programmchef, ähnlich wie Ina Tenz von Antenne Bayern und Norbert Grundei von N-JOY, vorerst jedoch nicht vorstellen. Trotz des geballten Ansturms von Ed Sheeran auf die internationalen Hitparaden wird es in den Tagesprogrammen deutscher Radiosender in absehbarer Zeit also keine „Dauerschleifen“ für den britischen Singer-Songwriter oder andere jeweils besonders „angesagte“ Interpreten geben. Damit folgen die Radiomacher hierzulande dem Beispiel ihrer Kollegen im Heimatland des „Chart-Stürmers“. So hat BBC Radio 1 zurzeit auch nur zwei Stücke aus dem Sheeran-Album in der eigenen – 46 Titel umfassenden – aktuellen Playlist.

Doch nichts hat für immer Bestand – auch nicht die Musikplanung von Radioprogrammen. Daher abschließend noch einmal ein Blick zurück in die Musik-Historie: Als Mitte der 1950er Jahre in den USA die ersten Formatradios entstanden, orientierten sich deren Programmmacher an dem Nutzungsverhalten von Musikboxen. In Bars und Clubs wurden seinerzeit für einige Cent immer wieder dieselben gerade populären Titel aufgerufen. Diese Verhaltensmuster waren Vorbild für die ersten Top 25-Stationen, die als Vorreiter der heutigen populären Radioprogramme gelten. Wer weiß – vielleicht wird Spotify doch noch zum Vorbild für Hörfunker, so wie vor gut 60 Jahren die Musikbox.

Dieser Artikel von Horst Müller erschien am 16. März 2016 zuerst bei blogmedien.