ClearChannel: Sündenfall der Radiowelt

Bitter Lemmer

Der Leibhaftige in korporativer Erscheinung. Der Moloch. Die Krake. Das Monster, das die amerikanische Radiowelt gleichschaltet. So schreiben es Medienkritiker und Feuilletonisten seit Jahren. Und liegen seit Jahren grundfalsch.

ClearChannel ist eine Radiofirma. Radio only, sonst nix. Radio ist das Hauptgeschäft dieser Firma. Richtig ist: ClearChannel ist wirklich groß. Sehr groß sogar. 2.000 Radiosender sind auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine Menge. Richtig ist auch: ClearChannel bringt allein aufgrund der schieren Größe eine massive Marktmacht auf die Straße. Weiterhin ist es zutreffend, daß ClearChannels Macht weitreichende Folgen für Programmierung, Vermarktung und die Musikindustrie hat. Und auch das ist richtig: ClearChannel hat viele seiner Programme ähnlich oder gleich formatiert. Es hat Strukturen vereinheitlicht und einen Industriekonzern aus dem Radio geformt.

Wer all das für teuflisch hält, der möge sich fragen, ob er auf der Seite des Radios steht. Und er möge vergleichen, was die ob ihrer vorgeblichen Pluralität immer gelobte deutsche Radiolandschaft zu bieten hat. Strukturen und Programme sind überwiegend gleichgeschaltet – woran immer das liegen mag. Die deutsche Musikindustrie produziert – vorsichtig formuliert – nicht unbedingt bessere Ware als die amerikanische. Die Vermarktung liegt auch hierzulande in wenigen Händen – zum Glück, sonst gäbe es praktisch kein kommerzielles Radio in Deutschland. Immerhin könnte man einwenden, daß eine größere Vielzahl an Eigentümern… ja welchen Effekt eigentlich hat? Vielfalt jedenfalls nicht.

Der eigentliche Unterschied liegt darin, daß die deutschen Radiosender fast durchweg nur Nebengeschäfte sind. Das Nebenbeimedium Radio ist das Nebenbeigeschäft von Zeitungs- und Fernsehfirmen, egal, ob privat oder öffentlich-rechtlich. Das eine bedingt das andere: Weil das Radio ein Nebenbeigeschäft der Verleger, der Anstalten und von RTL ist, ist es zum Nebenbeidasein verdammt. Die Macht liegt in Büros, die nicht zu den Radiostationen gehören.

Die Folgen beklagen wir ständig, und wir reden doch ebenso ständig an der Ursache vorbei. Radio wird immer eintöniger. Radio verliert Marktanteile – an das Fernsehen und an Printmedien. Das ist kein Unfall, das ist logisch. Ein vernünftiger Verleger wird immer zuerst dafür sorgen, daß es seiner Zeitung – seinem Kerngeschäft – gut geht. Wenn dann noch Ressourcen frei sind, können wir uns auch noch etwas um das Radio kümmern. Noch ist das Radio ein Nebenbeimedium, aber wenn es so weiterläuft, ist es bald ein Marginalmedium.

ClearChannel ist dagegen eine Radiofirma. Zugegeben: ClearChannel hat den Markt aggressiv erobert, vielleicht bisweilen auch überhart. Aber ClearChannel hat gezeigt, welche Macht dem Medium Radio innewohnt. Radio ist das Kerngeschäft, ebenso, wie das Kerngeschäft der Verleger die Zeitung ist oder das Kerngeschäft der öffentlich-rechtlichen Anstalten das Fernsehen. Radio ist für ClearChannel kein Nebenbei, sondern die Hauptsache.

ClearChannel ist damit auch das lebende Beispiel für die Richtigkeit so mancher bedenklich klingender Aussagen. Der SPD-Politiker Freimut Duve, bis vor kurzem internationaler Medienwächter der OECD in Wien, hat in einem Interview mit einer österreichischen Tageszeitung darauf hingewiesen, daß die Verlegerbeteiligungen an Radiosendern in Osteuropa eine Gefahr für die Meinungs- und Medienvielfalt darstellen. In Deutschland und Österreich sieht er da offenbar keine Gefahr, denn diese nannte er nicht. Wie sollte er auch: Seine Partei gehört zum Allparteien-Kartell, das in sämtlichen deutschen Bundesländern mit Ausnahme Berlins fast ausschließlich Verlegerradios zu Lizenzen verholfen hat.

Das Berliner Beispiel paßt übrigens sehr hübsch in diesen Zusammenhang. Eine Eigenheit des Berliner Mediengesetzes hat nämlich zu einer wenigstens vorübergehend ungewöhnlich dynamischen Entwicklung der Radiobranche geführt. Darin steht, daß jede technisch verfügbare Frequenz auch ausgeschrieben und vergeben werden muß. Muß, nicht kann. Vorübergehend war echte Vielfalt die Folge. Aber daß die News-Talker (Verleger-Eigentümer) und Jazzer ihr Handwerk nicht verstanden, hat die Behörde nicht zu verantworten. Und auch, wenn sich mittlerweile ein Großteil der Berliner Sender am Spielchen beteiligt, wer denn das beste der vielen AC-Hitradios betreiben kann, ist eine positive Konsequenz bis heute sichtbar: In Berlin schneidet das Radio mehr als zehn Prozent des gesamten Werbekuchens für sich heraus. In NRW, was vergleichweise ein Radio-Albanien ist, sind es weniger als fünf Prozent. Das Radio ist die beste wirtschaftliche Erfolgsstory, die Berlin vorzuweisen hat. Es gibt keine andere Branche, die deutschlandweit derart nachhaltig von Berliner Entwicklungen beeinflußt wurde.

2004 wird vielleicht wirklich ein deutsches Reformjahr. Vielleicht gelingt es, neben den Steuern und den Sozialsystemen auch den Mediendschungel zu lichten. Und vielleicht kommt die eine oder andere Radiofirma ins Land, für die Radio die Hauptbeschäftigung ist. Und sei es ClearChannel. Oder wollen wir öffentlich zugestehen, daß wir Medienprotektionismus brauchen, weil wir zu blöd sein könnten, ebenso erfolgreich Radio zu machen wie die Amerikaner?


Lemmer

Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist in Berlin.

E-Mail: christoph@radioszene.de