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Mehr Leidenschaft in die Nachrichten

Bitter Lemmer

Es war der Mittwoch der vorletzten Märzwoche. Die Tagesschau zeigte das Bild eines jungen Palästinensers. Er trug eine graue Weste, die aussah, als sei sie schußsichere Polizeiausrüstung. Ansonsten war der Junge eher kleinwüchsig, schätzungsweise 160 cm hoch. Stämmiger Körperbau. Er hatte die Hände hochgereckt, wie man das häufig in Western sehen kann. Seine Augen waren schreckgeweitet, er fürchtete sichtlich um sein Leben. Hinter der Kamera, außerhalb des Bildes, standen vermutlich israelische Soldaten. Es handele sich um einen verhinderten Selbstmordattentäter, sagte der Off-Sprecher. Seine graue Weste wurde von den hochgereckten Armen derart hochgezogen, daß zwischen Jeans-Gürtelkante und Westen-Unterkante ein trainiertes Sixpack zum Vorschein kam. Das Gesicht war dagegen von Babyspeck gerundet. Der Mund stand halb offen. Der Junge hatte Todesangst. Ein Selbstmordattentäter als lebender Blindgänger. Eben wollte er sich in die Luft jagen, um den versprochenen Sex mit den himmlichen Jungfrauen zu genießen, und jetzt, nachdem sein Leibchen versagt hatte, zitterte er um das irdische Leben. Die Agenturen waren sich nicht ganz einig, ob er 14 oder 16 Jahre alt war. Verschiedentlich war auch zu lesen, er sei geistig unterentwickelt. Ich selbst hätte als 14- oder 16jähriger vermutlich nicht den Einfall gehabt, mich mit so einer Sprengstoffweste in den Himmel zu schießen. Mit 14 habe ich mit meinen Klassenkameraden darüber diskutiert, ob wir unsere soeben gewonnene gesetzliche Religionsfreiheit dahingehend umsetzen sollten, daß wir uns vom Religionsunterricht abmelden. Wenn uns jemand von himmlichen Jungfrauen erzählt hätte, hätten wir den vermutlich als rettungslosen Irren abgetan.

In vielen Radionachrichten habe ich Teile dieser Geschichte gehört. Allein: Es klang immer wie eine dieser zahllosen Nahost-Meldungen, an deren Wahnsinn wir uns derart gewöhnt haben, daß sie uns langweilen. Das Ereignis wird von den Erzeugern der Rohware in ein kühles Nachrichtenpaket verwandelt. Die DPA reichert es mit den gewohnten Floskeln an. Zu den gewohnten Floskeln gehört, daß allerorten immer von Sprengstoffgürteln die Rede ist. Wenn ein Selbstmordattentäter loszieht, dann immer mit einem Sprengstoffgürtel. Zum ersten Mal habe ich jetzt gesehen, daß dieser Gürtel eine Weste war. Das mag detailversessen klingen, aber es gehört zum Thema: Viele Redaktionen beten unhinterfragt die Formulierungen der DPA nach statt den eigenen Augen zu trauen. Im Radio wird dann staatstragend eine Meldung verlesen, die bis zur Unkenntlichkeit entkernt und ihrer Geschichte beraubt ist, die im besten Fall niemanden stört. Das aufwühlende daran, das für Denk- und Gepsrächsstoff sorgt, hat die Nachrichtenmaschine herausgefiltert. Darum stach diese Filmsequenz so auffallend heraus. Sie zeigte den Gesichtsausdruck dieses Jungen, seine Todesangst und den bizarren Vorgang, daß da ein ferngesteuerter Sprengstoffroboter einen 14jährigen zu entschärfen hatte, an den sich kein menschlicher Soldat heranwagte. Quer durch den Mediengarten hatte das Konsequenzen. Von Spiegel online bis zur FAZ gingen die Schreiber der Frage nach, was das für Kiddies sind, die sich da das TNT umschnallen, und was für Leute es sind, die ihnen die himmlichen Jungfrauen versprechen.

Nachrichten erzählen Geschichten von relevanten Dingen, die gerade passiert sind. Wir haben im Prinzip zwei Möglichkeiten, diese Geschichten zu erzählen: So, daß sie im besten Fall nicht stören, oder so, daß die Hörer das Radio lauter drehen und das Auto erst dann verlassen, wenn die Geschichte erzählt ist. Seien wir ehrlich: Die quälenden Koalitions- und Oppositionswortspenden der letzten Monate, die Inflation und Entwertung des Wortes Reform, die zahllosen abgeschriebenen Satzmonster aus Erklärungen von Parteien und Verbänden – das wollen nicht einmal diejenigen freiwillig hören, die es Stunde für Stunde auf ihre Hörer prasseln lassen.

Mehr Leidenschaft beim Nachrichtenmachen bringt nicht nur mehr Spaß bei der Arbeit, sondern auch offenere Ohren beim Hörer. Leidenschaft und eigenes Interesse gehören dazu, um die richtigen Themen und die richtigen Aufhänger zu finden. Leidenschaft gehört dazu, die richtigen Geschichten am Mikrofon zu erzählen. Traut Euch einfach!

Angebot an die Nachrichtengemeinde: Schickt mir gern Mitschnitte oder Manuskripte zur vertraulichen kostenlosen Begutachtung (Beantwortungsdauer je nach zeitlicher Verfügbarkeit). Für Radiosender: www.commpro.net.

Lemmer

Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist in Berlin.

E-Mail: christoph@radioszene.de

XPLR: MEDIA Radio-Report